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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

1007–1009

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Weidemann, Hans-Ulrich [Ed.]

Titel/Untertitel:

Asceticism and Exegesis in Early Christianity. The Reception and Use of New Testament Texts in Ancient Christian Ascetic Discourses. With an Introduction by E. A. Clark.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 464 S. m. 2 Abb. = Novum Testamentum et Orbis Antiquus. Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 101. Geb. EUR 89,99. ISBN 978-3-525-59358-5.

Rezensent:

Uta Heil

Der Sammelband geht auf eine gleichnamige Tagung im Rahmen des Projektes »Novum Testamentum Patristicum« im Oktober 2011 zurück, zu welcher der herausgebende Professor für Biblische Theologie (katholisch) an seine Universität Siegen geladen hatte. Ausgangsthese ist die Beobachtung, dass neutestamentliche Texte über weite Strecken nicht zur Begründung asketischer Lebensformen geeignet seien und daher frühchristliche Autoren eine Reihe von Strategien anwenden mussten, »um asketischen Sinn zu produzieren« (Tagungsprospekt). Die Tagung knüpft damit an die Monographie von Elizabeth A. Clark an (Reading Renunciation. Asceticism and Scripture in Early Christianity, Princeton 1999), die von derselben Beobachtung ausging und elf unterschiedliche exegetische Strategien benannte, die sie anhand von Johannes Chrysostomus, Hieronymus und Origenes verifizierte. Für Clark arbeiteten die patristischen Autoren wie postmoderne (De-)Konstruktivisten, wenn sie asketisches Leben biblisch zu legitimieren suchten. Clark war auch Teilnehmerin der Tagung und verfasste zusätzlich eine Einleitung für diesen Sammelband. Auch hier weist sie darauf hin, dass die Beiträge des Bandes zeigen, wie schon pa-tris­tische Autoren moderne exegetische Einsichten wie »the focus on ›the body‹«, »to relate textual interpretation to praxis« oder »the role of the audience« (13) angewandt haben.
Leider muss der Leser auf einige Tagungsvorträge verzichten, wird aber durch sechs neue Beiträge, u. a. vom Herausgeber selbst, entschädigt. Acht der Autoren bereiten einen Band für die Reihe Novum Testamentum Patristicum vor (Weidemann, Merkt, Meiser, Theobald, Karmann, Leemans, Matz, Hunter). Die Beiträge sind sauber redigiert; leider werden sehr oft die Quellen nur angegeben oder übersetzt ausgeschrieben.
Ein erster Block widmet sich der wirkungsgeschichtlichen Perspektive: Hans-Ulrich Weidemann (Engelsgleiche, Abstinente – und ein moderater Weintrinker. Asketische Sinnproduktion als literarische Technik im Lukasevangelium und im 1. Timotheusbrief; 21–68) zeigt innerhalb des Neuen Testaments, wie die lukanische Redaktion des synoptischen Materials asketische Aussagen verstärke, wogegen der 1Tim asketische Aussagen bei Paulus zurücknehme; Andreas Merkt führt dieses Ergebnis fort (Reading Paul and Drinking Wine; 69–77) und weist kurz anhand der patristischen Rezeption des 1Tim auf, wie sehr diese Strategie des Autors aufgegangen ist. Martin Meiser (78–91) demonstriert, dass die Figur des Täufers erstaunlich selten und erst im monastisch-eremitischen Kontext als Vorbild herangezogen wird. Michael Theobald (92–117) erläutert unter Rückgriff auf die Tübinger Dissertation von Adolf Smitmans (Das Weinwunder von Kana. Die Auslegung von Joh 2,1–11 bei den Vätern und heute, 1966), dass tatsächlich dieses »Luxuswunder« Jesu auf der Hochzeit von Kana für enkratitische, markionitische und auch nichtchristliche Kreise anstößig war, »mit deren Pfunden ihre kirchlichen Gegner aber wuchern konnten« (105). Dass diese Erzählung seit Tertullian, De monogamia, zugleich dazu herangezogen wurde, eine zweite Eheschließung abzulehnen (110 f.), da Jesus nur einmal auf einer Hochzeit war, zeigt das »kreative Potential« (Tagungsprospekt) patristischer Autoren, aber gewiss auch die Dominanz der Sexualmoral als Thema in der Alten Kirche. Thomas Karmann (118–147) belegt anhand der Exegese von Mt 1,18–25 bei Epiphanius, Hieronymus und Basilius von Cäsarea, dass erst im Kontext asketisch-monastischen Lebens im 4. Jh. die Jungfräulichkeit Mariens auch nach der Geburt Jesu selbstverständlich angenommen und exegetisch abgesichert wurde. Liesbeth Van der Sypt (148–160) beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Auslegungen von 1Kor 7,36–38 bei Clemens von Alexandrien, Tertullian, Origenes und Methodius von Olymp, die mit demselben Text sowohl eine Akzeptanz als auch eine Ablehnung der Ehe begründen. Ob diese Autoren dabei auch auf den Paulus des 1Tim zurückgegriffen haben, hätte in diesem Kontext interessiert, zudem Merkt auf Clemens hingewiesen hatte (71).
Der zweite, längere Block behandelt Rezeptionsgeschichtliches: Jeremy W. Barrier befasst sich mit den unterschiedlichen koptischen und griechischen Fassungen der Seligpreisungen in den Paulusakten (mit Faksimile und neuer Rekonstruktion im Anhang), Judith L. Kovacs behandelt Stromateis III des Clemens von Alexandrien, Catherine M. Chin eine Homilie des Origenes zu Josua, Andrew Jacobs eine Homilie des Origenes zu Lk 2,21–24, Virginia Burrus den Traktat des Origenes, Peri Pascha, Johan Leemans den Schriftgebrauch in den verschiedenen Fassungen des Asketikons des Basilius von Cäsarea (mit einer angehängten Statistik prominenter Schriftstellen), Brian J. Matz die Kappadokier und ihr Verständnis der Gottesherrschaft aus Mt 13 als dem Menschen verborgen, aber durch Askese anzustreben, David Brakke die wenigen neutestamentlichen Stellen in der kontemplativen Schriftmeditation bei Evagrius Ponticus, Mariya Horyacha die mystisch-spirituelle Exegese bei Pseudo-Macarius, Samuel Moawad neu edierte Schriften des Schenute von Atripe, Stephen J. Davis die Verwendung von 2Tim 4,7 f. auf neun Epitaphen aus den ägyptischen Mönchskolonien in Kellia und Pherme (6.–7. Jh.), Andreas Hoffmann Cyprians Mahnung an die Jungfrauen, David G. Hunter die kritische Rezeption von Hieronymus’ Auslegung von 1Kor 7,5 (Zölibat) im Ambrosiaster; Elizabeth A. Clark den reichtumskritischen pelagianischen Traktat De Divitiis und Virginia Burrus in einem zweiten Beitrag die Debatten über Ehe und Jungfräulichkeit in der vita der Helia.
Die Beiträge behandeln vor allem drei asketische Themenfelder: Sexualität, Ernährung sowie Reichtum. Sie bieten eine Fülle an Einzelbeobachtungen und zeigen sowohl die Raffinesse der patristischen Exegeten als auch ihre selbstverständliche tiefe Verwurzelung in den biblischen Schriften. Bei mehreren Beiträgen würde eine differenzierte Analyse der exegetischen Strategien über eine nur referierende Präsentation hinausführen. Das von Clark entwickelte Arsenal (s. o.) geht über die Alternative »wörtlich« – »übertragen« hinaus und bietet Anknüpfungspunkte für weitere Überlegungen, die über die schlichte Beobachtung, dass die Debatte über Askese mit Hilfe der Schriftauslegung geführt wurde (z. B. 145), hinausführen kann.
Die biblischen Schriften werden vielfältig und unterschiedlich, ja gegensätzlich, manchmal sogar kontrovers innerhalb eines Textes ausgelegt, und zwar nicht nur Abschnitte, die ohnehin ambivalent sind wie 1Kor 7 (bes. 157, Van der Sypt). Oft scheinen es weniger die biblischen Texte, sondern die eigene Lebenswelt und Erfahrung zu sein, die die Auslegung bestimmen (76, Merkt), so dass »die gelebte Praxis auf die Wahrnehmung der Bibel neu zurückwirkt« (82, Meiser). Bei Pseudo-Macarius ist sogar explizit die Erfahrung Gottes in der Seele als Offenbarungsquelle über die Bibel gestellt (304.318, Horyacha). Wodurch wird also gelungene christliche Ex­-e­gese definiert, durch Orthodoxie und Orthopraxie? Legt ein Häretiker die Schrift falsch aus oder führt eine falsche Schriftauslegung zur Häresie? Gewiss kann patristische Exegese auf »einen blinden Fleck heutiger Exegese« (114, Theobald) hinweisen, aber auch be­fremden, wenn z. B. die »Gottesherrschaft« der Gleichnisse Jesu (Mt 13) als dem Menschen verborgen, aber durch Askese erreichbar verstanden wird (282, Matz; 284, Brakke). Die Beiträge zeigen jedenfalls, dass Exegese harte Arbeit bedeutet. Für den optimistischen Origenes führt ein Fortschritt im Leben auch zu einem Fortschritt in der Exegese. In der Tradition des Origenes stehen jedoch ebenfalls die Ansichten, die allein asketisches Christentum als das wahre Christentum betrachten (12, Clark) – ein Fortschritt in der Exegese? Die Vielfalt der biblischen Texte bot jedenfalls genügend Material für eine Gegenexegese.