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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

993–995

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Grünstäudl, Wolfgang, u. Markus Schiefer Ferrari [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gestörte Lektüre. Disability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2012. 267 S. m. Abb. = Behinderung – Theologie – Kirche, 4. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-022339-4.

Rezensent:

Christian Strecker

Angestoßen durch zwei Wissenschaftler mit Behinderung, nämlich den amerikanischen Medizinsoziologen Irving K. Zola und den britischen Sozialwissenschaftler Michael Oliver, etablierten sich im Zuge des sogenannten cultural turn ab den 1980er Jahren im angloamerikanischen Sprachraum neben den gender studies, den postcolonial studies und anderen innovativen Forschungsfeldern die disability studies. Ihr Anliegen ist es, »Be­hinderung« nicht länger als individuelle, krankhafte Störung, sondern als soziokulturelles Konstrukt zu fassen. Die gängige Verquickung von somatischer bzw. psychisch-geistiger Schädigung (impairment) und soziokulturell induzierten, stigmatisierenden Beeinträchtigungen (disabil­ity) wird hier konsequent kritisiert. Menschen mit Behinderung begegnen in den disability studies zudem nicht länger nur als Ob­jekte, sondern zumal auch als Subjekte der Forschung. In der angloamerikanischen Exegese fanden die disability studies bereits in mehreren Büchern Niederschlag. Der angezeigte Aufsatzband geht auf eine interdisziplinäre Tagung zurück, die im Mai 2011 am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau stattfand. Neben dem Vorwort der Herausgeber und einem Grußwort von Simone Bell-D’Avis enthält er zwölf Beiträge, die dem Umgang mit »Behinderung« in biblischen Schriften, der altkirchlichen Rezeption und der Heilpädagogik nachgehen, und zwar mit Blick auf offene wie auch versteckte Prozesse der Diskriminierung.
In einem lesenswerten Einführungsbeitrag stellt Markus Schiefer Ferrari am Beispiel von Lk 14,12–14 zehn klassische exegetische Deutungsstrategien vor, die – zum Teil ungewollt – zu einer Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung führen, sei es, dass sie Menschen ohne Behinderung gezielt gegenübergestellt werden (Kontrastierung), sei es, dass man sie rundweg einer sozial isolierten Gruppe zuordnet (Subsumierung), dass ihnen sämtliche Kompetenzen abgesprochen werden (Infantilisierung), dass man sie nicht als Individuen wahrnimmt (Anonymisierung), dass sie als Ge­genbild einer heilen Wirklichkeit dienen (Metaphorisierung), dass sie für Anliegen von Menschen ohne Behinderung instrumentalisiert werden (Funktionalisierung), dass ihnen pauschal be­stimmte Defizite zugesprochen werden (Stigmatisierung), dass sie in einem ästhetischen Kontext zur Projektionsfläche von Menschen ohne Behinderung werden (Ästhetisierung), dass sie als Appell zum Engagement für Ausgegrenzte missbraucht werden (Ethisierung) oder dass sie aufgefordert werden, ihr Schicksal zu akzeptieren (Pragmatisierung). Als hermeneutische Voraussetzung all dieser Lektüren, die mit diversen, zum Teil beschämenden Zitaten aus der Fachliteratur belegt werden, macht Schiefer Ferrari die strikte Trennung zwischen Behinderung und Nichtbehinderung aus. Um diese zu überwinden, tritt er für das Konzept der disabil-ity als hermeneutische Leitkategorie ein. Eine »disabilitysensible« Exegese würde zur Dekonstruktion der negativen Differenzkategorien und zu einer für die menschliche Vielfalt offenen Bibellektüre führen. Nach einer Vorstellung der – ihrerseits nicht unproblematischen – »disability-orientierten« Lektüre der lukanischen Parabel von James Metzger formuliert Schiefer Ferrari abschließend Konsequenzen und Desiderate für die biblische Forschung. Dazu zählen u. a. eine breitere Beachtung neutestamentlicher Texte in den bisher auf die alttestamentlich-jüdische Literatur konzentrierten biblischen disability studies, eine vertiefte Auseinandersetzung mit den hermeneutischen Prämissen und theologischen Implikationen einer »disabilitysensiblen« Exegese und eine Forcierung des interdisziplinären Dialogs auf der Basis einer Anthropologie der generellen Verletzbarkeit des Menschen.
Thomas Hieke widmet sich sodann dem Umgang mit »körperlichen Schäden« von Priestern in Lev 21,16–24. Für deren Ausschluss vom Opferdienst macht er rein pragmatische Gründe namhaft (Schutz vor rituellem Versagen, Abwehr ökonomischer Interessen bei der Priesterwahl). Hieke betont, dass damit kein sozialer Ausschluss, kein genereller kultischer Ausschluss und kein Einkommensverlust einherging. Daraus leitet er Impulse für die heutige Zeit ab. Michael Tilly zeigt, dass Paulus Behinderung und Krankheit nur bedingt neu konzipierte. Leid und Schwachheit würden zumal in den Korintherbriefen im Rahmen der theologia crucis zwar nicht mehr als Ausdruck der Gottverlassenheit, sondern als Wirkfeld der göttlichen Kraft Christi gefasst, gleichwohl könne Paulus Krankheit auch als Folge schuldhaften Verhaltens ausweisen und Begriffe für somatische und geistige Defekte pejorativ gebrauchen. Behinderung sei für Paulus keine Normalität, eine umfassende Integration der Betroffenen sei mithin nicht im Blick, zugleich diene ihm die Normalität der Welt aber auch nicht als maßgeblicher Bewertungsrahmen für die Beurteilung gelingenden Lebens. Markus Tiwald durchleuchtet die Motive und die Erzählpragmatik der Wunderberichte in Mk 5,1–20; 5,21–43 und 10,46–52, um am Ende zu betonen, Jesus »demonstriere« an den Marginalisierten die heilende und befreiende Botschaft des Gottesreiches. Mk würde dann auf die erkrankten und leidenden Nebenfiguren positive Rollenbilder übertragen. Die in den disability studies entwickelte Sensibilität bleibt in diesen instrumentalisierenden und subsumierenden Aussagen über Betroffene leider auf der Strecke. Auf der Basis konstruktivistischer Erkenntnistheorie führt Alois Stimpfle aktuelle Konstruktionen von Behinderung und Körperlichkeit wie auch neutestamentliche Körperkonzepte vor Augen, um dann unter Rückgriff auf disability als hermeneutische Basiskategorie das metaphorische Verständnis von Behinderung in Joh 9 zu beleuchten. Tobias Nicklas legt unter Rekurs auf 2Makk 7, ApkPetr 4–6 sowie markinische und paulinische Texte aufschlussreich dar, dass das frühjüdische und frühchristliche Konzept der Leiblichkeit der Auferstehung weniger vom Gedanken der Unversehrtheit bzw. Intaktheit des Körpers denn von der Idee des Menschen als Beziehungswesen bestimmt sei, markiere doch der Leib Beziehungsfähigkeit. Dass darüber hinaus viele Texte Heil »auch« konkret als Heilung von Krankheit/Behinderung fassten, dürfe man nicht als Diskriminierung von Menschen mit Behinderung werten. Ilaria L. E. Ramelli zeigt auf, dass Bardesan und Origenes disability als Adiaphoron fassten und als eigentliche Behinderung Laster bzw. Sünden bestimmten. Wolfgang Grünstäudl geht differenten Bewertungen der Blindheit des Didymus von Alexandrien nach. Erik Weber diskutiert das humanistisch-christliche Erbe der Heil- bzw. Sonderpädagogik, dessen Perversion in der NS-Zeit und die »Verstörungen« der »Selbstbestimmt-Leben-Bewegung«, der »materialistischen Behinderten-­pädagogik« sowie der disability studies. Lars Mohr zeigt, inwiefern Menschen mit schwerster Behinderung das dominium terrae (Gen 1,26–28) erfüllen. Anita Müller-Friese führt Herausforderungen und Impulse der Sonderpädagogik für die Bibeldidaktik vor Augen. Matthias Bahr widmet sich dem angemessenen Umgang mit dem Thema »Behinderung« in der Religionsdidaktik.
Der Buchtitel »Gestörte Lektüre« gibt zu verstehen, dass die Beiträge die »ungestörte Normalisierungslektüre« biblischer Texte in punkto Behinderung stören und durchbrechen wollen. Auch wenn der Dialog mit dem exegetischen Fachdiskurs zum Teil intensiver ausfallen könnte, auch wenn man nicht jeder Deutung folgen mag, auch wenn manche Beiträge weite Anläufe nehmen, so gelingt es dem Band im Ganzen doch, eine neue Sensibilität für die vielen, oft verdeckten Diskriminierungen zu schaffen, die Menschen mit Behinderung im biblisch-christlichen Diskurs erfahren, wie auch für deren Unterwanderung. Das Buch sei allen ans Herz gelegt, die sich mit biblischen Aussagen über Krankheit und Heilung, Leid und Leib, Schöpfung und Auferstehung befassen.