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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

984–986

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Böldl, Klaus

Titel/Untertitel:

Götter und Mythen des Nordens. Ein Handbuch.

Verlag:

München: C. H. Beck 2013. 320 S. m. 38 Abb. u. 2 Ktn. = Beck’sche Reihe, 6099. Kart. EUR 14,95. ISBN 978-3-406-65219-6.

Rezensent:

Bernhard Maier

In der deutschsprachigen Theologie ist die wissenschaftliche Be­schäftigung mit den Göttern und Mythen der vorchristlichen Nordgermanen unter wechselnden Vorzeichen immer wieder von be-sonderem Interesse gewesen. Die Geschichte dieser Beschäftigung er­streckt sich von Jacob Grimms romantischer Annahme einer be­sonderen Empfänglichkeit der germanischen Länder für die Re­formation über die Auseinandersetzungen um das Postulat einer »Germanisierung des Christentums« im Zweiten Kaiserreich und den Konflikt zwischen »Deutschen Christen« und der Bekennenden Kirche unter der nationalsozialistischen Diktatur bis hin zur theologischen Auseinandersetzung mit verschiedenen Spielarten des germanischen Neuheidentums in der Gegenwart. Ein Buch, das sowohl die Götter und Mythen des vorchristlichen Nordeuropas als auch die Sicht der gegenwärtigen Skandinavistik darauf vorstellt, kann daher auch die Aufmerksamkeit von Theologen beanspruchen.
Das preiswerte Taschenbuch, erschienen in der »Beck’schen Reihe«, wendet sich an ein allgemeines Publikum, das zwar ein tieferes Interesse am Gegenstand, nicht aber besondere Vorkenntnisse mitbringt. Sein Autor Klaus Böldl, gleichermaßen ausgewiesen als Mediävist und literarischer Erzähler, legt als Inhaber des Lehrstuhls für Literatur und Kulturgeschichte des skandinavischen Mittelalters der Universität Kiel naturgemäß das Hauptaugenmerk weder auf theologische noch auf religionswissenschaftliche Aspekte des Gegenstands, sondern betrachtet die »Götter und Mythen des Nordens« vor allem unter literatur- und kulturgeschichtlichen Ge­sichtspunkten. Kapitel 1 »Nordische Mythologie und germanische Religion« sucht zunächst das Verhältnis der uns überlieferten altnordischen Texte zur vorchristlichen Religion Skandinaviens und der Germanen insgesamt zu klären, während Kapitel 3 einen Überblick über die verschiedenen Stränge der Überlieferung gibt. In den deutlich umfangreicheren Kapiteln 4 bis 7 behandelt B. sodann der Reihe nach Texte, die von den ersten und letzten Dingen handeln, Erzählungen um die Götter Odin und Thor sowie schließlich Texte, die von Fruchtbarkeitsgottheiten wie Njörd, Frey und Freyja erzählen. Die beiden sehr viel kürzeren Kapitel 8 und 9 behandeln ab­schließend zum einen die Rolle der (früher zumeist als »Lappen« bezeichneten) Samen für die altnordische Mythologie, zum anderen die mediale Rezeption der altnordischen Götter und Mythen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Eine nach Kapiteln ge-gliederte kommentierte Bibliographie und ein Register der histo-rischen Gestalten sowie der mythischen Gestalten, Gegenstände und Orte runden den mit zwei Karten und 38 Schwarzweiß-Ab-bildungen (vor allem von mittelalterlichen Bilddenkmälern, aber auch von einigen neuzeitlichen Darstellungen altnordischer Gottheiten bzw. mythologischer Vorstellungen) illustrierten Band ab.
Der »Vorbemerkung« zufolge ging es B. bei der Abfassung des Buches in erster Linie darum, »den Leser mit den Grundzügen des nordischen Pantheons vertraut zu machen und einige Hinweise zu geben, wie man diese Geschichten verstehen kann« (8). Als Ausgangspunkt dienten ihm dabei die auf Island aufgezeichneten Er­zählungen um jene nordischen Götter und Göttinnen, die in der Prosa- und Lieder-Edda überliefert sind. Diese Erzählungen werden im vorliegenden Buch ausführlich referiert, mitunter auch in einer deutschen Übersetzung B.s wörtlich zitiert, in den Kontext der mittelalterlichen isländischen Kultur gestellt und zu weiteren literarischen, bildlichen und epigraphischen Zeugnissen der germanischen Mythologie in Beziehung gesetzt. Immer wieder kommen dabei neben Unterschieden zwischen den verschiedenen altnordischen Texten auch Unsicherheiten der Interpretation und kontroverse Auffassungen der modernen Forschung zur Sprache, wobei B. selbst zumeist einen vorsichtig abwägenden Standpunkt einnimmt und sich einer dezidierten Stellungnahme mitunter ganz enthält.
Dass der Untertitel des Werks »Ein Handbuch« und nicht etwa »Eine Einführung« lautet, ist vielleicht dem beträchtlichen Um­fang oder auch der Komplexität der Darstellung geschuldet, die zwar durchweg gut lesbar ist, dem Leser aber auch ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit und Ausdauer abverlangt und wesentlich mehr als eine bloße Nacherzählung von Mythen bietet. Ein Handbuch ist das Werk indessen nur insofern, als es eine breite Vielfalt unterschiedlicher Aspekte des Gegenstands abdeckt oder zumindest anreißt. Allerdings wird dabei gerade die Rezeptionsgeschichte der altnordischen mythologischen Texte, die für das Verständnis ihrer religiösen Indienstnahme bzw. ideologischen Vereinnahmung von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart von überragender Bedeutung ist, auf knapp zehn (Text-)Seiten nur sehr kurz abgehandelt. Hinzu kommt, dass das Buch mit Rücksicht auf allgemein kulturgeschichtlich, nicht aber spezifisch wissenschaftlich interessierte Leser ganz ohne Fußnoten auskommt, so dass unterschiedliche wissenschaftliche Positionen zu Einzelfragen – wie etwa zu dem auf S. 26 erwähnten Problem eines germanischen Sakralkönigtums – nicht unmittelbar ersichtlich sind, sondern erst in der ang eführten Literatur aufgesucht werden müssen. Wer also zu Spezialfragen etwa im Zusammenhang mit der Missions- und Bekehrungsgeschichte Skandinaviens Hilfe sucht, wird daher eher ge­eignete Stichwörter in den letzten (und daher relativ aktuellen) Bänden des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde zu Rate ziehen. Dagegen wird B.s Darstellung von all jenen Lesern mit Gewinn benutzt werden, die sich über den Inhalt der altnordischen Göttererzählungen, ihren Zusammenhang mit der mittelalterlichen isländischen Kultur, ihre Bezüge zu den übrigen Zeugnissen des germanischen Heidentums und wesentliche Probleme der Interpretation dieser Texte als reli-gionsgeschichtliche Quellen einen ebenso detailreichen wie ausgewogenen ersten Überblick verschaffen wollen.