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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

923–926

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Pattison, George

Titel/Untertitel:

Kierkegaard and the Quest for Unambiguous Life. Between Romanticism and Modernism: Selected Essays.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2013. XII, 251 S. Geb. £ 62,00. ISBN 978-0-19-969867-7.

Rezensent:

Walter Dietz

Der britische, früher in Oxford, seit 2013 in Glasgow lehrende Theologe und ausgewiesene Kierkegaard-Kenner George Pattison legt hier eine Sammlung von Aufsätzen vor, die er für diesen Band überarbeitet hat und deren thematische Bündelung in Kierkegaards Verhältnis zur (und nach P.: mit der) Romantik liegt. Kierkegaards Verfasserschaft beginne, so Kapitel 1, nicht mit Entweder-Oder 1843, auch nicht mit der Andersen-Kritik (1838) oder seiner Dissertation zur Ironie (1840/41), sondern bereits mit dem Gilleleie-Tagebuch (1835; »a strongly romantic work«), in dem sich Kierkegaard als Romantiker oute (1 f.). Die Suche nach dem eindeutigen Leben (unambiguous life) beginnt also schon 1835, zieht sich über Faust-Briefe und Entweder-Oder bis hin zum Spätwerk.
Die Suche nach der eigenen Wahrheit und Bestimmung stellt sich dar als Kampf, »a struggle with oneself, a continual striving and self-overcoming« (5). P.s These ist, dass der junge Kierkegaard die innere Zerrissenheit der Frühromantik widerspiegele. Sie motiviere seinen Zug zur Eindeutigkeit, der schließlich im »attack on the established church« münde (7). Hierher passt auch seine »self-sacrificial«, märtyrerhafte Haltung (»martyrdom of laughter«, 15) in der Korsar-Affäre (1846).
In Kapitel 2 The Carnival is in Town (30 ff.) wird im Anschluss an den russischen Literaturwissenschaftler M. M. Bachtin das Karnevaleske und Exzentrische in Kierkegaards Werk herausgearbeitet. – Der Verlobungsbruch wird von P. verstanden als Paradigma für die Einsicht (vgl. in belletristischer Form: Loriot 2006), »that there is a fundamental mismatch between men and women« (41). Am Ende gelte Shakespeares Einsicht auch in Kierkegaards eigenen Augen: »better well hung than ill wed« (ebd.).
Kapitel 3 Boredom behandelt die Langeweile in Entweder-Oder (62 ff.) als »chronic feature« des ästhetischen Stadiums. Die Ingredienz von A ist Langeweile (die die Hohlheit – emptiness – des Ästhetischen aufzeigt, 66); aber auch das Leben des Gerichtsrats Wilhelm erscheint (vgl. W. Lowrie und J. Garff) als langweilig (65). Im Begriff Angst (69 ff.) stellt sich die dämonische Verschlossenheit immanent als Leere und Langeweile dar, die aus dem Freiheitsverlust folgt (71): »boredom is precisely a manifestation of the absence of freedom« (72). Dem stellt P. Schopenhauers (73 ff.) und Heideggers (78 ff.) Begriff von Langeweile gegenüber. Für Heidegger ist Langeweile kein psychologisches Phänomen, sondern »the fundamental attunement of modern culture« (77). Treffend wird von P. herausgearbeitet, wie sich Kierkegaards Verständnis von Langeweile (und ihrer Überwindung) radikal von der A’s (in Entweder-Oder ) sowie Heideggers unterscheidet (85).
Kapitel 4 Action thematisiert Kierkegaards Stellung zum politischen Dezisionismus. Im Kontext der geistigen Konfusion 1914–18 ff. wurde Kierkegaard gern als »advocate of decisionism« missverstanden (92; aber auch P. ist dieser Interpretation leider nicht ganz abhold, cf. 114). Von Antidemokraten beider »Ufer« (nationalsozialistisch: A. Bäumler, marxistisch: G. Lukács) wurde er »adopted« (92), d. h. zwangsadoptiert. P. kritisiert C. Schmitts Berufung auf einen dezisionistischen Kierkegaard (92 f.), wie sie in den 1930er Jahren en vogue war (vgl. sogar W. Lowrie; 95). In diesem Zusammenhang rekapituliert P. Kierkegaards »attack on the liberal press, the mob, the democratic revolution, and communism«, insbesondere aber auf die Gleichheitsidee (97 ff.). Als antimarxistisches Gegenmittel empfehle Kierkegaard »deepening in individual inwardness« (99) – nicht etwa die Gründung einer christlichen Partei. Aufgrund sei-ner Kritik des liberaldemokratischen Parteienwesens habe sich A. Bäumler insofern zu Recht auf Kierkegaard berufen, meint P. (99 f.). Aber auch Th. Haecker, Vordenker der Weißen Rose, weiß sich im Geiste eins mit Kierkegaards Antiliberalismus (vgl. Der Brenner, 1914; 100); sofern die liberale Presse in jüdischer Hand war, verband sich der Antiliberalismus gern mit Antisemitismus.
Anders als in Deutschland gibt es in Dänemark und Amerika eine heftige Debatte über Kierkegaards (angeblichen) Antisemitismus, die P. aufgreift. Hintergrund ist die These von P. Tudvad (2010), das Spätwerk (Kirchenattacke) habe antisemitische Züge. Zu Recht stellt P. dagegen heraus, dass Kierkegaards Angriffsziel eben nicht das Judentum gewesen ist (ein Antisemitismus etwa im Stile des geburtsjahrgleichen Richard Wagner war ihm total fremd!), sondern die Christenheit (103 f.). P. konzediert, dass Kierkegaard eine für nationalsozialistische Aneignung offene Flanke gehabt habe (obwohl auch er, mit S. Backhouse 2011, Kierkegaards radikale Kritik am Nationalismus, Chauvinismus und Faschismus durchaus wahrnimmt; 104). Trotz seiner Kritik des liberalen Individualismus und einer massiven Sozial- und Medienkritik habe sich Kierkegaard nicht explizit politisch verstanden. Auch Th. Haecker (1914) verstehe ihn als religiösen Denker (105). Hierzu muss allerdings gegen P. vermerkt werden, dass sich Kierkegaards Kritik der Gegenwart wohl kaum als rein innerreligiöser, unpolitischer Beitrag verstehen lässt. Doch auch P. ist sich dessen bewusst, dass die Andersen-Streitschrift 1838, die Kritik der Gegenwart (LA, 1846) und schließlich die Kirchenattacke (Kirkestorm, 1854/55) nicht apolitisch gedeutet werden können. Das ganze Kirche-Staat-Verhältnis ist per se auch eine eminent politische Frage (107). P. rekurriert 108 f. teils zustimmend auf neuere Beiträge, die die politische Dimension im Denken Kierkegaards herausstellen (M. Westphal 1991, G. Connel/C. Stephan Evans 1992, Martin Matuštík 1993, Mark Dooley 2001, Barry Ryan 2004, A. Assiter 2009), glaubt aber nicht, dass Politik zuletzt sein »issue« gewesen sei (109). Dennoch liebäugelt P. mit der These, dass Kierkegaards Suche nach Unzweideutigkeit, d. h. dem »unambiguous life« faktisch dem Dezisionismus Vorschub geleistet habe.
Kapitel 5 untersucht Kierkegaards Einfluss auf K. Barth (Röbr 1919) und M. Heidegger (SZ 1927). Mit Leo Schestow stellt es sich so dar, dass Heidegger unter Verdeckung seiner Abhängigkeit von Kierkegaard dessen Existenzdialektik »into a Husserlian framework« ge­stellt habe (121). P. befasst sich eingehend mit Schestows anti-rationaler, dezisionistischer Sicht auf Kierkegaard (ganz gegen Kierkegaard wird der Glaube im Kontext von KzT in dezisionistischer Weise missverstanden; 125). Im Blick auf Schestows sehr eigenwillige und zum Teil auch abwegige Interpretation verzichtet P. auf Kritik, hebt vielmehr auf die von ihm gezeigte Affinität Kierkegaards mit Dostojewski ab, beide verstanden als »Rufer in der Wüste« (129).
Im Blick auf Hegels und Kierkegaards Deutung der antiken Tragödie stellt P. in Kapitel 6 die große Nähe beider heraus (am Beispiel der Antigone; 142 ff.) und analysiert 161 ff. Kierkegaards berühmte Exposition des Selbst-Begriffs (in KzT A,a), wobei das Gesetztsein im Horizont der Notwendigkeit mit Heideggers Begriff des Geworfenseins verglichen wird (163).
In Kapitel 7 stellt P. heraus, dass Kierkegaard seinem Ansatz in Entweder-Oder II (Wilhelm) treu blieb; die »Reise der Selbstverwirklichung« habe für ihn ein geschichtlich-konkretes Gepräge und lasse darin das Ästhetisch-Beliebige hinter sich. »Becoming a self […] involves learning both one’s history and one’s freedom, one’s past and the possibilities of one’s future« (171). Bereits Wilhelm zeige auf, worin dies in ethischer Hinsicht gründe: »resolute self-choice, patience, repentance, and a belief in God as the creator and providential ground of human life« (171). Dabei behauptet P. zu Recht, dass Wilhelm alias Kierkegaard hier keinen explizit christ-lichen Gottesgedanken voraussetze.
Das theologisch gehaltreiche Kapitel 8 behandelt »Looks of Love«, die Frage des rechten Sehens und Gesehenwerdens (im Blick auf das Selbst, Gott und den anderen), wobei mit dem Blick Gottes auch die Gewissenthematik mit ins Spiel kommt (204 ff.). Im Sein vor Gott bedeute der Blick Gottes Forderung (d. h. Gesetz), im Sein vor Christus das Bewusstsein der »forgiveness of sins« (d. h. Evangelium, 205), welche auch die »possibility of self-acceptance« (206) in sich schließe. Kurzum: Wer nicht aus der Vergebung lebt, kann mit sich selbst nicht ins Reine kommen. P. stellt heraus, dass dem bei Kierkegaard die vom Kreuz ausgehende Versöhnung zugrunde-liege (atonement, 212 ff.). Die originelle (und zugleich waghalsige) Pointe dieses Kapitels besteht darin, dass P. die verwandelnde Kraft Christi mit der des Verführers (Entweder-Oder/A) typologisch gleichsetzt (217,cf. 202).
In Kapitel 9 macht P. deutlich, dass das Bewusstsein des Vor-Gott-Existierens das Gewissen als eine (naturgesetzte) »moral intuition within the soul« (237) qualitativ transzendiert. Ohne jenes Bewusstsein öffnet sich leicht die Tür zur nachhaltigen Selbstabschottung des Gewissens (vgl. A. Eichmann 1961, 228–238).
Fazit: P. macht sich auf die Spur des Schriftstellers Kierkegaard, seiner inneren Entwicklung, seiner vielfältigen Facetten. Vordergründig geht es dabei mehr um literarische Stilmittel (Ironie, Maskerade – vgl. H. Fenger 1976/80) als um theologische oder philosophische Gehalte. Insgesamt ein Buch, das sich weniger dem theologischen, als vielmehr dem schriftstellerischen Konzept Kierkegaards zuwendet, aber dabei immer wieder in essayistisch-exkurshafter Weise markante Details ans Licht bringt.
Die sehr gut aufgestellte deutschsprachige Kierkegaard-Forschung wird allerdings nur ganz peripher – und dies auch nur etwa bis zum Ende des 1. Weltkrieges – wahrgenommen (Chr. Schrempf, Th. Haecker; merkwürdigerweise fehlt alles Weitere ganz, so z. B. E. Hirsch und die gesamte Forschung nach dem 2. Weltkrieg, z. B. W. Anz, M. Theunissen, H. Deuser; J. Ringleben u. v. a.). Somit ist P.s Buch ein reines »insider«-Produkt der dänischen und anglo-amerikanischen Forschungsszene. Seine Grundthese, dass die Be­deutung Kierkegaards in einer Kritik der (spät-)modernen Lethargie, »Selbst«-Nivellierung und Geistlosigkeit bestehe, ist allerdings sehr gut belegt. Die Stärke seines Ansatzes ist nicht zuletzt darin begründet, dass er auch die Erbaulichen Reden (ein Tipp Heideggers?) ausführlich mit einbezieht.