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Ausgabe: | Juni/2014 |
Spalte: | 805–807 |
Kategorie: | Ökumenik, Konfessionskunde |
Autor/Hrsg.: | Kirschner, Martin, u. Joachim Schmiedl[Hrsg.] |
Titel/Untertitel: | Diakonia. Der Dienst der Kirche in der Welt. Vorwort v. R. Zollitsch. |
Verlag: | Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2013. 154 S. = Katholische Kirche im Dialog, 1. Geb. EUR 18,00. ISBN 978-3-451-32626-4. |
Rezensent: | Reiner Marquard |
Dieses Buch wurde von den Ereignissen überholt, ohne in seiner Substanz überholt zu sein. Der 2010 bekannt gewordene Missbrauchsskandal und der daraufhin einsetzende rapide Vertrauensverlust sowie die erste gewichtige innerkatholische Reaktion durch das Memorandum von Theologinnen und Theologen im Februar 2011 führte auf der Frühjahrsvollversammlung der Bischöfe 2011 in Paderborn zur Vereinbarung eines Dialogprozesses über die drei wesentlichen Grundfunktionen der Kirche – Diakonia, Liturgia und Martyria. Auf dem ersten Dialogtreffen in Mannheim 2011 wurden Prioritäten und Visionen formuliert (u. a. Pastoral der Barmherzigkeit). Weite Teile des deutschen Katholizismus wurden jedoch von Benedikt XVI. während seines Deutschlandbesuchs im September 2011 nicht nur deswegen enttäuscht, weil er die Themensetzungen des Dialogprozesses unerwähnt ließ, sondern auch, weil seine Freiburger Entweltlichungsrede viele katholische Christen in Kirche und Caritas in großer Ratlosigkeit zurückließ. Zwei Kennworte des Papstes (›Relativismus‹ und ›mangelnde Glaubenskraft‹) verblieben, an denen sich der deutsche Katholizismus und insbesondere die Caritas hätte abarbeiten sollen. Hier beginnt das vorliegende Buch.
Die Deutsche Sektion der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie wollte bei der Aufarbeitung der Rede von der Entweltlichung wie des vorauslaufenden und noch im Gange befindlichen Dialogprozesses nicht abseits stehen. Am 13./14. September 2012 traf man sich in Hannover unmittelbar vor dem zweiten Dialogprozesstreffen, um sich in zwei Themenkreisen zur Diakonia der Kirche auszutauschen, deren Vorträge in diesem Band dokumentiert sind. Im ersten Teil (Verhältnis von Kirche und Welt) referiert Magnus Striet (Freiburg) über die Freiheit als Konstitutivum des neuzeitlichen Menschen in einer pluralen Gesellschaft (41–56). Peter Hünermann (Tübingen) schließt mit Überlegungen zum grundlegenden Wandel im Verständnis der Kirche von Menschenrechten und Menschenwürde, Demokratie und Staat an (57–78) und Rainer Bucher fragt nach den deutschen Rezeptionen und Verweigerungen dem II. Vatikanum gegenüber (79–100). Der zweite Teil ist dem Jahresthema des Dialogprozesses (Diakonia) vorbehalten. Karl Gabriel (Münster) trägt Thesen zur Verhältnisbestimmung von Kirche, Caritas und säkularer Gesellschaft vor (101–120), Margit Eckholt (Osnabrück) fordert eine angemessene Repräsentanz der Diakonia Christi auch durch Frauen (121–136), Richard Hartmann (Fulda) entwirft die Dreistufigkeit des kirchlichen Amtes vom Amt des Diakons her (137–144) und Albert Franz (Dresden) richtet seinen Blick auf die spezifische Diasporasituation in Ostdeutschland im Hinblick auf das christlich-diakonische Zeugnis (145–152). Eingeleitet wird das Buch von Martin Kirschner (Tübingen) zum Kontext und zum Gehalt der Tagung (9–26) sowie von Joachim Schmiedl (Vallendar) zum Dialogprozess (27–39).
Wer das Buch zur Hand nimmt, kommt nicht daran vorbei, die gegenwärtigen Entwicklungen mitzulesen, denn die Ereignisse haben sich überschlagen. Benedikt XVI. trat zurück und der neue Papst folgt nicht unmittelbar jeder Konvention. Der Limburger Bischof stürzte seine Diözese und den deutschen Katholizismus in eine erneute schwere Krise und Franziskus I. übertrifft alle Erwartungen, indem er sich mit einem Fragebogen weltweit zu Wort meldet, dessen erste Beantwortungen in Deutschland offensichtlich eklatant belegen, wie enorm die Diskrepanz ist zwischen Lehramt und dem, was katholische Christenmenschen in ihren Lebensformen für gut halten. So kommt dieser Tagungsband zu spät und doch zu früh und gerade so zur rechten Zeit.
Die Vorträge sind mit ruhiger Hand geschrieben. Theologie denkt nach. Im Grunde ist der innerkatholische Kampf des ausgehenden 19. Jh.s zwischen Modernismus und Antimodernismus, zwischen Konziliarismus und Ultramontanismus längst nicht überwunden. Der römische Katholizismus setzt nach wie vor monothematisch und antimodernistisch auf ein präpositives jus divinum, dem 1870 pseudo-traditionalistisch im Unfehlbarkeitsdogma ein kirchenpolitisches Korsett angepasst wurde, um das Gut des Glaubens vor einer ›indifferenten‹ Moderne zu schützen. Die naturrechtlich gedachte Notwendigkeit der Freiheit, die im Vorhinein weiß, woraufhin der Mensch frei sein soll, ist aber etwas völlig anderes als der Gedanke der Ermöglichung von Freiheit, die aus einem glaubenden und freiem Gewissen gewählt wird und in der sich heute auch und gerade katholische Christenmenschen zweifelsohne komplementäre Lebensmodi vorstellen möchten. Eine diakonale Kirche hätte dann ihre Aufgabe darin, Resonanzboden einer göttlichen Freiheit zu sein, in der Barmherzigkeit erfahren werden kann. Das vorliegende Buch haftet den Autoritätsverlust des Amtes jedenfalls nicht einfach »einer selbstherrlichen Eman-zipation der Gläubigen« an, sondern auch und bestimmt einer »Selbstmarginalisierung des Amtes« (47), das die Vorstellung einer individuell gelebten und riskierten Freiheit im Kontext einer offenen Gesellschaft nicht denken kann oder möchte. Magnus Striets nachdenkliche Gegenrede zur Entweltlichungsrede liest sich wie ein theologisches Menetekel.