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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

802–803

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Benedikt XVI.

Titel/Untertitel:

Beten. Die Kunst, mit Gott zu sprechen.

Verlag:

Trier: Paulinus Verlag (vormals Augsburg: Sankt Ulrich Verlag) 2013. 256 S. Geb. EUR 19,95. ISBN 978-3-7902-5708-3.

Rezensent:

Helmut Schwier

Das Buch ist schon aufgrund seines Autors und der besonderen Kontexte auffällig. Verlagsseitig beworben als das »letzte Buch des Papstes«, in dem »ein Meister des Gebets sagt, wie Beten geht«, wird es zugleich in den Kontext gestellt, dass der emeritierte Papst sich nun »zu einem Leben im Gebet zurückgezogen« (Klappentext) hat. Sachlich wichtiger als dieser schwer zu beurteilende Vermächtnis-charakter ist für das inhaltliche Verständnis der Kontext der rö­mischen Generalaudienzen: Die dort zwischen dem 4. Mai 2011 und dem 3. Oktober 2012 vorgetragenen Katechesen über das Gebet bilden in chronologischer Reihenfolge die einzelnen Kapitel des Buches; ur­laubsbedingt wurden die Katechesen im August 2011 und 2012 außerhalb Roms in Castel Gandolfo gehalten, die gleichzeitig den gewählten biblischen Duktus erkennbar unterbrechen und inhaltlich auf die Aspekte Lesen der Bibel, Klöster als Oasen des Geistes, das betrachtende Gebet, Kunst und Gebet (mit Hinweis auf ein persönlich berührendes wie ökumenisch verbindendes Bachkonzert, vgl. 56 f.) bzw. auf Maria und einzelne Heilige eingehen und als vertiefende Seitengedanken zu betrachten sind.
Insgesamt entsteht einschließlich solcher Exkurse ein stringenter Aufbau: Beginnend mit zwei Kapiteln über das Gebet in anderen Kulturen und den Sinn für das Religiöse (7 ff.) stehen Auslegungen der Bibel im Mittelpunkt, zunächst zum Alten Testament (17–45.58 ff.), dann zum Neuen Testament (103-217.231 ff.), gebündelt im Kapitel über die Heilige Schrift als »erste Schule des Gebets« (244 ff.), das aber bereits Liturgie reflektiert und in das Schlusskapitel über die Liturgie als »Quelle und Abschluss des Gebets« (250 ff.) mündet. Der knappe Anhang (255 f.) dokumentiert Chronologie und Orte der Katechesen.
Trotz des stringenten Aufbaus ist das Buch keine systematische Theologie des Gebets, sondern breitet in anspruchsvollen Katechesen eine Fülle von Aspekten des Betens aus. Auffällig und evangelisch betrachtet besonders hervorzuheben ist der durchgängige Bezug auf die Bibel. Um die Kunst des Betens zu erläutern und in die »Schule des Gebets« (7.11) einzuführen, greift Benedikt XVI. zur Schriftauslegung und findet hier eine letztlich unauslotbare, je­doch zu beschreibende Fülle vor, die notwendig zur exemplarischen Auswahl führen muss. Im Alten Testament dienen Abrahams Bitte um die Verschonung Sodoms (Gen 18,16 ff.), Jakobs Kampf am Jabbok (Gen 32,23 ff.), Moses Fürbitte (Ex 32,7 ff.) und Elia (1Kön 18,20 ff.) als narrative Grundtexte. Hieran schließen sich Psalmauslegungen an (Ps 3; 22; 23; 126; 136; 119; 110). Im Neuen Testament wird Jesus als Beter vor Augen geführt (Taufe, Jubelruf, Gebet bei Heilungen, Gebet in Jesu Familie, letztes Abendmahl, hohepriesterliches Gebet, Gethsemane, Gebet des Gekreuzigten, Gebetsschweigen Jesu), bevor dann Abschnitte aus der Apostelgeschichte (Einsetzung der Diakone, Stephanus, Gebet für den gefangenen Petrus), den Episteln (Gal 4,6; Röm 8,15; 2Kor 1,3 ff.; 2Kor 12,1 ff.; Eph 1,3 ff.; Phil 2,5 ff.) und der Offenbarung (1,4 ff.; 4,1 ff.; 22,6 ff.) folgen. Damit sind zentrale, zum Teil auch überraschende Texte ausgewählt worden. Auch wenn immer wieder kurze Verweise auf das Vaterunser eingestreut sind, ist das Fehlen dieses Gebetes auffällig. Eine Vaterunser-Auslegung findet sich in dessen Jesusbuch (Erster Teil, 2007, 5. Kapitel).
Katechesen werden immer das bereits Gewusste und die Tradition bestätigen, pflegen und neu vergegenwärtigen. Dem dienen auch diese Katechesen, was sich inhaltlich in den regelmäßigen Bezugnahmen auf den Katechismus der Katholischen Kirche, seltener auf Lehrdokumente, häufiger auf die Kirchenväter und mo­nas­tisch-spirituelle Traditionen zeigt. Rhetorisch wird in den einzelnen Kapiteln niveauvoll wie verständlich erklärt und jeweils er­kennbar eine meist kurze Applikation angefügt, die zugleich zusam­menfassenden Charakter hat. Dass sich hier manche Redun danzen finden und durchgängig eher allgemein, im nüchtern-sachlichen Stil und unter Aufnahme der theologischen Grundbegriffe gesprochen wird, war erwartbar. Umso deutlicher fallen für christliche Leser die eher unerwarteten Wendungen und Gedanken ins Gewicht.
Schon die Hinweise auf das Beten in anderen Kulturen und Religionen haben nicht nur illustrierenden Charakter, sondern auch inhaltliche Relevanz – jenseits der missverständlichen Tendenz, dies bloß als Vorfeld oder Hinweis auf Vollendung in der katholischen Tradition zu verstehen. In dem präsentierten altägyptischen Gebet bittet ein Blinder um das Augenlicht mit der besonderen Nuance, dadurch die Gottheit zu sehen. Benedikt XVI. kommentiert so knapp wie eindrücklich: »Damit ich dich sehe: Das ist der innere Kern des Gebets!« (8) Schon hier wird aus dem einfachen Bittgebet eine relevante Gottesrede. Dieses Anliegen wird in glücklicher Weise in der ersten Bibelauslegung zu Abrahams Fürbitte fortgesetzt: Schon in Abrahams erster Bitte wird das theologische Problem der Gerechtigkeit Gottes entdeckt und ausgeführt (vgl. 18), das sich schrittweise zu einem Gerechtigkeitsverständnis wandelt, das das Gute, die Vergebung und die Möglichkeit der Verwandlung des Menschen hervorhebt (vgl. 19), ohne hamartiologisch naiv zu werden: »Rettung bedeutet nicht einfach, der Strafe zu entkommen, sondern von dem Bösen befreit zu werden, das in uns wohnt« (21). Dass innerbiblisch aus den zehn Gerechten schließlich sogar nur ein Gerechter wird (vgl. Jer 5,1), wird zu Recht betont und dient dem noch verhaltenen Hinweis auf Christus (vgl. 22). Auch an anderen Stellen wie dem Kampf am Jabbok, der Fürbitte des Mose und dem Gebetsschweigen Jesu gelingen Benedikt Verdichtungen existentieller Gottesrede, die theologisch und spiri-tuell bereichern.
Zwar wird man kaum allen Auslegungsdetails folgen, die durchgängig christologisch bestimmte Psalminterpretation kritisieren und den starken Wahrheitsbegriff wie den Höhepunkt des Betens in der Liturgie evangelisch reformulieren müssen, dennoch zeigt das Buch die biblische Weite des Betens auf und lehrt, gegenwärtige Praxis zu verstehen und zu erweitern, auch in ökumenischer Hinsicht. Ein Meister der Theologie als Rede von und zu Gott sagt, was Beten ist!