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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

781–784

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kranemann, Benedikt, u. Klaus Raschzok [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gottesdienst als Feld theologischer Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Deutschsprachige Liturgiewissenschaft in Einzelporträts. 2 Bde.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2011. 1204 S. m. zahlr. Porträts = Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, 98. Kart. EUR 124,00. ISBN 978-3-402-11261-8.

Rezensent:

Alexander Deeg

Es ist zweifellos ein opus magnum, das hier anzuzeigen ist. Nach annähernd einem Jahrzehnt der Arbeit von zwei Herausgebern und insgesamt 64 Beiträgern konnte 2011 das zweibändige Werk »Gottesdienst als Feld theologischer Wissenschaft im 20. Jahrhundert« erscheinen. Auf rund 1200 Seiten versammelt es 95 wissenschaftliche Kurzbiographien von katholischen (55) und evangelischen (40) Liturgiewissenschaftlern (darunter nur zwei Frauen: Aemiliana Löhr, OSB und Waldtraut Ingeborg Sauer-Geppert), die zur Aufnahme in das Buch die Bedingungen erfüllen mussten, wesentlich im 20. Jh. und primär im Bereich der Liturgiewissenschaft gewirkt zu haben und bereits verstorben zu sein. Diese Anlage des Buches führt dazu, dass sein Schwerpunkt deutlich in der ersten Hälfte des 20. Jh.s liegt. Wie bereits Peter Cornehl in seiner ausführlichen Buchbesprechung (PTh 101 [2012], 200–213) bemerkte, sind manche »gerade noch rechtzeitig gestorben«, um noch Eingang in das Buch zu finden (wie etwa Frieder Schulz, Friedemann Merkel, Theodor Maas-Ewerd oder Hans-Christoph Schmidt-Lauber), andere haben als Autoren noch beigetragen, konnten aber in ihrer eigenen Bedeutung für die Liturgiewissenschaft nicht mehr gewürdigt werden (wie etwa Karl-Heinrich Bieritz, von dem vier Beiträge stammen). Nur angemerkt werden kann, dass sich das vorliegende Werk auch »spiegelbildlich« lesen lässt: Die 64 Autorinnen und Autoren der Beiträge (davon immerhin elf Frauen) dokumentieren ein »who is who« der gegenwärtigen deutschsprachigen Liturgiewissenschaft auf katholischer und evangelischer Seite.
Eröffnet wird der Band durch einen einleitenden Artikel der Herausgeber, in dem gleichsam der »Ozean« kartographiert wird, in den hinein dann die 95 biographisch-liturgiewissenschaftlichen Porträts als einzelne Inseln eingezeichnet werden (15–73). Kundig skizzieren B. Kranemann und K. Raschzok die Entwicklungen der evangelischen und katholischen Liturgiewissenschaft im 20. Jh., konturieren einzelne Phasen und beschreiben Institutionen, Zeitschriften und gegenwärtige Perspektiven der Forschung. Solchermaßen orientiert kann sich der Leser oder die Leserin auf den Weg durch die Einzelporträts machen und das Leben und Werk der im Folgenden in alphabetischer Ordnung dargestellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erkunden.
Die Erforschung des Wechselspiels von Biographie, kulturellen, akademischen, kirchlichen und politischen Kontexten und wissenschaftlicher Arbeit erweist sich als lohnend. Durchweg zeigt sich in den Beiträgen des Bandes, dass keineswegs linear aus der Biographie auf das Werk geschlossen werden kann (und umgekehrt), dass sich die Biographie aber immer »als Matrix liturgischer Theorieentwicklung« erweist (so Konrad Klek in einem seiner Beiträge, 1100).
Freilich zeigen die beiden Bände auch, dass die Gattung eines knappen Artikels, der biographische Informationen mit Wahrnehmungen des zeitgeschichtlichen Kontextes und einer Darstellung des Werks verbindet, ein nicht gerade leichtes und eher ungewohntes akademisches Genre bedeutet. So erweisen sich die Artikel in dem Band als äußerst unterschiedlich und changieren zwischen Laudatio (so z. B. auf eher problematische Weise die Artikel zu Otto Dietz und Christhard Mahrenholz) und kritischem Literaturbericht (so der Artikel zu Peter Brunner, der das Biographische und Zeitgeschichtliche gegenüber einem Referat seiner Gottesdienstlehre weit in den Hintergrund treten lässt), zwischen beinahe belletristisch lesbarer akademischer Biographie (so die Beiträge von Karl-Heinrich Bieritz) und nüchternem Protokoll (so manche der sehr knappen Artikel von Angelus B. Häußling). Die Länge der Artikel differiert stark, wodurch die Proportionen nicht immer stimmig erscheinen (vgl. die lediglich 3 ¼ Seiten, die Ildefons Herwegen gewidmet sind [499–502], im Vergleich zu den unmittelbar vorangehenden 23 Seiten zu Erich Hertzsch [476–498]). Insgesamt fällt auf, dass die Porträts aus evangelischer Feder meist ausführlicher ausfallen als die katholischen Beiträge! Insgesamt wäre ein stärker vereinheitlichender Zugriff der Herausgeber sicher wünschenswert gewesen, wobei andererseits gerade die Unterschiedlichkeit der Beiträge und die jeweils individuelle Handschrift der Autoren und Autorinnen das Buch auch insgesamt zu einer Lesefreude macht (bedauerlich ist lediglich, dass nicht allen Artikeln die Darstellung des Wechselspiels von Biographie, Kontext und Werk auf gleiche Weise gelingt). Sicher hilfreich wäre es auch gewesen, wenn jeweils einige Worte zur Methode liturgiewissenschaftlicher Arbeit gesagt worden wären, wie dies etwa in dem Artikel von Kranemann zu Anton L. Mayer (701–710) auf exemplarische Weise gelingt. Der Wandel der Liturgiewissenschaft aufgrund des Einflusses der jeweiligen akademischen Großwetterlagen hätte so noch deutlicher in den Blick treten können und die immer wieder prekäre Frage nach einer liturgiewissenschaftlichen Epistemologie hätte in der Auswertung der Bände einige neue Einsichten erwarten lassen.
Natürlich lässt sich bei einem Sammelwerk wie diesem nach den Kriterien für die Auswahl fragen. Das 20. Jh. war die Zeit einer institutionellen Konsolidierung der Liturgiewissenschaft auf katholischer Seite, so dass der Begriff »Liturgiewissenschaftler« dort zunehmend deutlicher eingegrenzt werden konnte. Dies gilt evangelischerseits nicht auf gleiche Weise, weswegen die Ränder dort bis in die Gegenwart offener sind. So fragt etwa Peter Cornehl in seinem Porträt von Ernst Lange, ob dieser Praktiker und äußerst vielfältige Praktische Theologe wirklich eine Aufnahme in die Reihe der vorgestellten Liturgiewissenschaftler verdient (vgl. 621–632). Cornehl bejaht diese Frage m. E. zu Recht; damit wäre aber zugleich zu fragen, ob nicht auch andere Theologen und Historiker, Kirchenmusiker/Musikwissenschaftler, Ritualtheoretiker etc. eine Aufnahme verdient hätten, auch wenn ihr Schwerpunkt nicht die »zünftige« Liturgiewissenschaft war. Besonders lässt sich diese Frage m. E. auch im Blick auf Homiletiker stellen, die den liturgischen Kontext der Predigt nie völlig ausklammern können und mit ihren Überlegungen zur »Kommunikation des Evangeliums« das Gottesdienstverständnis entscheidend prägen (insgesamt wären Artikel zu Götz Harbsmeier, Karl Holl, Friedrich Kalb, Werner Jetter, Henning Schröer, Otto Weber, vielleicht sogar auch zu Eduard Thurn­eysen, um nur einige Namen zu nennen, sicherlich lesenswert; teilweise konnten Artikel augenscheinlich nicht geliefert und erstellt werden – etwa zu Friedrich Buchholz).
Man kann ein Werk wie dieses auf zweierlei Weise nutzen: erstens als Nachschlagewerk, wenn einzelne Porträts gezielt herausgegriffen und separat rezipiert werden (dies dürfte wohl der übliche Umgang mit dem 1200-Seiten-Werk werden). Für das Studium der Liturgiewissenschaft und für die liturgiewissenschaftliche Forschung wird sich das Buch so als unentbehrliches Standardwerk erweisen. Zweitens kann das Buch aber auch insgesamt als Bestandsaufnahme rezipiert und vielfältig ausgewertet werden. Vor allem erscheint es möglich, aufgrund der Wahrnehmung der nun vorliegenden Artikel die Bedeutung von »Mentalität« (im Sinne des überindividuellen und nur teilweise bewussten zeitgeschichtlichen Kontextes) und Biographie für die Liturgiewissenschaft und allgemeiner für die Theologie näher zu bestimmen. In den 1920er und 1930er Jahren – so zeigen die Bände – mussten sich alle vorgestellten Theologen zu den nationalen, konservativen Strömungen und zu der verbreiteten Sehnsucht nach Objektivität und Gemeinschaft verhalten und ihre Theologie in Nähe und Ferne dazu bestimmen. Die jeweiligen Mentalitäten erweisen ihre Bedeutung aber auch in allen weiteren Entwicklungen des 20. Jh.s, weswegen sich eine Auswertung der Bände in dieser Hinsicht als vielversprechender nächster Schritt erweist. Auch weitere Fragen könnten dann Antworten finden – etwa die, wie genau sich ökumenische Vernetzungen gestalten, wie historische, systematische und praktische Aspekte der Liturgiewissenschaft ineinandergreifen, welche theologischen und außertheologischen Bezugsdisziplinen sich jeweils als prägend erweisen etc. In dieser Hinsicht steht zu hoffen, dass die beiden Bände zur Grundlage weiterer Forschungsprojekte werden (und es ist etwas schade, dass Querverbindungen zwischen den Beiträgen nicht durch ein Sachregister erschlossen werden; immerhin aber gibt es ein Personenregister, durch das es möglich wird, nach Bezügen zu suchen). Dabei können dann auch die (notwendigen) Einschränkungen dieses Werks aufgehoben und weitere ökumenische sowie internationale Kontexte mit einbezogen werden, die die Liturgiewissenschaft in der jüngeren Geschichte bestimmen und weiterhin prägen werden (Kontakte zur Orthodoxie, aber auch zu Freikirchen, jüdische Dialogpartner, Wahrnehmungen südamerikanischer, afrikanischer oder asiatischer Kontexte, der Dialog mit Kulturwissenschaften …). Bei dieser Weiterarbeit wäre dann m. E. auch das Wechselspiel von Homiletik und Liturgik noch deutlicher zu berücksichtigen, das für die evangelische Gottesdienstentwicklung bereits seit dem frühen 16. Jh. konstitutiv ist und spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch katholischerseits grundlegend diskutiert werden muss.
Es zeigt sich: Das Projekt einer »liturgiewissenschaftliche[n] Prosopographie« als »systematische Erforschung eines bestimmten Personenkreises« (15) ist auch mit 1200 Seiten nicht abgeschlossen, aber mit den zwei vorliegenden Bänden auf grandiose Weise eröffnet, für die den Herausgebern nur Dank und Bewunderung ausgesprochen werden kann.