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Ausgabe:

Juni/2014

Spalte:

704–706

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Güzelmansur, Timo

Titel/Untertitel:

Gott und Mensch in der Lehre der anatolischen Aleviten. Eine systematisch-theologische Reflexion aus christlicher Sicht. M. e. Vorwort v. Karl Kardinal Lehmann.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2012. 317 S. = CIBEDO-Schriftenreihe, 2. Kart. EUR 24,95. ISBN 978-3-7917-2468-3.

Rezensent:

Friedmann Eißler

In der Türkei stellen die Aleviten 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung, in Deutschland etwa 13 Prozent der »Muslime« (mithin weit mehr als eine halbe Million Menschen). In Anbetracht dieser Zahlen sind sie immer noch erstaunlich wenig bekannt. Die vorliegende Dissertation leistet dem auf einem zentralen Gebiet Abhilfe, indem erstmals auf der Grundlage philologisch-historischer Quellenanalyse das Gottes-, Menschen- und Vermittlungsverständnis des anatolisch-alevitischen Glaubens untersucht und die Ergebnisse »für ein breiteres Publikum verständlich und überschaubar« (so die Zielsetzung der Schriftenreihe) dargestellt werden. Timo Güzelmansur entstammt einer arabischsprachigen alawitischen Ge­meinschaft und wurde katholischer Christ. Seine katholisch-theologische Sicht bildet den kritischen Horizont für eine vergleichende Perspektive.
Den status quaestionis der westlichen Forschung steckt G. mit Kurzzusammenfassungen von fünf wichtigen Arbeiten ab, die zu­gleich die Bandbreite der unterschiedlichen fachlichen und methodischen Zugänge aufzeigen (K. Kehl-Bodrogi, G. Väth, K. Vorhoff, M. Dreßler, W. Dettling – die letztere steht als ebenfalls theologische Arbeit G. am nächsten, fußt jedoch insbesondere auf qualitativen Interviews und der alevitischen Binnenperspektive). Namen wie M. Sökefeld, R. Motika oder R. Langer, die ebenfalls für wich-tige Studien auf dem Gebiet stehen, mag man in diesem Zusam menhang vermissen; man hätte sie trotz und vielleicht ge­rade wegen des theologischen Zugangs sicher gerne als Gesprächspartner be­rücksichtigt gesehen.
Als textliche Grundlage der Untersuchung dienen »Alevitische Grundtexte«: neben zwei Versionen des »Gebots des Imam Cafer« (»Buyruk I«, Ausgabe S. Aytekin, 1958, auf die sich F. Bozkurt in seiner modernisierten Fassung stützt, und »Buyruk II«, M. Yaman, 2000) das Vilayetname, die Makalat und Nech’ül Belâğa. Wo nötig, werden Textpassagen aus dem Osmanischen oder Türkischen ins Deutsche übersetzt.
Der Hauptteil »Grundlehren« erstreckt sich – am ausführlichsten – über das Gottesverständnis (u. a. Gott als Schöpfer, Gott als heilige Kraft, Das Glaubensbekenntnis, Gott als Person), sodann zu etwa gleichen Teilen über »Der Mensch als Spiegel des Universums« (Herkunft, Verantwortung, Ziel in der Vervollkommnung des Menschen auf dem Weg der Mystik) sowie »Die Vermittlung zwischen Gott und Mensch« (worunter Glaube und Vertrauen, Rituale, Emanation/Inkarnation, Seelenwanderung/Reinkarnation, Of­fenbarungsbegriff und Heilige Schriften verhandelt werden). Das mit gut zehn Seiten sehr kurze vierte Kapitel D nimmt in kritischer Reflexion eine Bewertung aus katholischer Sicht vor. Es folgen ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister.
Methodisch geht es G. um die Erkundung des Selbstverständnisses und darauf aufbauend um einen Vergleich mit dem Chris­tentum. Der Vergleich beschränkt sich dabei nicht auf Kapitel D, das als eine Art Fazit fungiert, sondern ist – außer in den deskriptiven und textanalytischen Teilen – durchgehend präsent, vor allem in den zusammenfassenden Abschnitten und in explizit komparativen Unterkapiteln im Verlauf der Untersuchung (z. B. »Pneumatologie und heilige Kraft«). Bei aller Sachlichkeit, die durchgehend gewahrt wird, entgeht G. an der einen oder anderen Stelle nicht gänzlich der Gefahr, einen christlich-normativen Maßstab an die anatolische Religion anzulegen. Aufs Ganze gesehen ist der Um­gang damit wohlüberlegt und durchdacht, doch wenn dem Alevitentum das »Fehlen« eines inhaltlichen Aspekts attestiert wird oder der christliche Begriff als Fragehorizont festgelegt wird (wenn auch um »Klärungsprozesse« anzuregen, z. B. 149 f.; vgl. 258 ff.), kommen methodische Fragen in den Blick, die nach Ansicht des Rezensenten noch gründlicher im Sinne der Unterscheidung von Deskription und normativer Durchdringung hätten reflektiert werden können.
Die alevitischen Schriften schwanken zwischen monistischer, emanatorischer und monotheistischer Gottesvorstellung, zumal in jüngster Zeit wird »Gott« verstärkt als pantheistisches Prinzip gedeutet. Das Glaubensbekenntnis lautet wie bei den Schiiten: »Es gibt keinen Gott außer Gott, Muhammad ist sein Prophet und Ali sein Freund.« Die »Dreiheit« Gott – Muhammad – Ali ist im Alevitentum zentral, es handelt sich dabei nicht um eine Dreigötterlehre, eher hat sie ihren Ort im Rahmen einer »gnostischen Kosmogonie«, wie sie bei den »extremschiitischen Übertreibern« ( ghulat) vorhanden ist. Die Trias wird als dreifach differenzierte Einheit beschrieben und bleibt vom christlichen Trinitätsverständnis dennoch klar unterschieden, da Letzteres ein ewiges Miteinander der göttlichen Personen in Selbsthingabe und Selbstunterscheidung mit einer geschichtlichen Dimension sowie der Möglichkeit menschlicher Teilhaberschaft durch den Heiligen Geist umfasse (und dadurch allein auf die christliche Trinität anwendbar sei). Die sowohl von der Schia wie vom orthodoxen Sunnismus abweichenden Lehrinhalte (der »Übertreiber«), die auch im Alevitentum anzutreffen sind, betreffen die »Einwohnung« Gottes in den Imamen, die Seelenwanderung sowie den Antinomismus bzw. die spirituelle Deutung des Gesetzes. Ein eigenes Gewicht erhält dabei die An­schauung vom Kreislauf des Lebens, die sich in einer Seelenwanderungslehre manifestiert. Diese fügt sich mit der auf dem gestuften mystischen Pfad zu erreichenden Vollkommenheit ( al-insan al-kamil) zu einem Menschenbild, das am Menschen und an ethisch-moralischen Prinzipien orientiert ist. Das Ziel, sich letztendlich als mit »Gott« identisch zu erfahren, geht im Hinblick auf den Menschen mit der Auflösung der Leib-Seele-Einheit zugunsten der (unsterblichen) Seele einher, im Hinblick auf Gott mit der Entwicklung apersonaler und pantheistischer Gottesvorstellungen. G. bewertet vor diesem Hintergrund die monotheistischen Themen im Wesentlichen als kontextbezogene Reaktionen der Aleviten auf das islamisch dominierte Umfeld.
Nimmt man die starke Betonung der Verantwortung vor Gott und vor der Gemeinschaft hinzu, die sowohl in dem wiederkehrenden Ritual des »Einvernehmens« (rızalık) sowie in der einmaligen »Wegbruderschaft« (musahiplik) als einem spezifischen Charakte-ristikum des Alevitentums ihren Ausdruck findet, tritt die Eigenständigkeit dieser anatolischen Religion hervor, wie sie heute von Aleviten in Mitteleuropa engagiert vertreten und politisch stark gemacht wird.
Das Buch Buyruk hat einen Stellenwert, der den Koran in die zweite Reihe drängt. Hier ist das Phänomen zu beobachten, wie eine anerkanntermaßen von Menschen verfasste Schrift sakralisiert, ja geradezu vergöttlicht wird (290). Dagegen zeigen die Makalat als autoritative Schrift klassische islamische Züge nahe an der koranisch-islamischen Tradition.
Die analytische Bezugnahme auf die Schriften muss die zentrale Bedeutung der Oralität für die Traditionsweitergabe über Generationen berücksichtigen. Erst in neuerer Zeit nimmt die Bedeutung der Schrifttraditionen enorm zu. Eine Reaktion auf die Auflösung traditioneller Sozialstrukturen, zumal in der Diaspora, und den damit zunehmenden Wegfall der klassischen Glaubensüberlieferung ist die Sicherung der Tradition durch Publikationen. In diesem Feld weit vorgedrungen zu sein und die inhaltliche Strukturierung des anatolischen Alevitentums in zentralen Bereichen nicht nur analysiert, sondern auch im Gegenüber zum Christentum profund dargestellt zu haben – und dies auf apologetische Weise in einem guten Sinne, nämlich verständlich erklärend auch für Nichtchristen, dies ist das große Verdienst G.s – eine Pioniertat.