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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

495–496

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Honnefelder, Ludger

Titel/Untertitel:

Woher kommen wir? Ursprünge der Moderne im Denken des Mittelalters.

Verlag:

Berlin: Berlin University Press 2008. 384 S. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-940432-28-5.

Rezensent:

Peter Walter

Wenn ein Philosophiehistoriker wie Ludger Honnefelder, der zu­gleich ein in aktuelle Diskussionen wie diejenige um die Bioethik eingebundener namhafter Philosoph ist, die Epoche, der er seit Jahrzehnten seine historische Forschung gewidmet hat, aus dem Blickpunkt der Gegenwart vorzustellen unternimmt, darf man gespannt sein. Wer die Arbeitsfelder H.s kennt, wird sich nicht wundern, dass auch in diesem Buch das Schwergewicht auf mittelalterlichen Philosophen liegt, die in der allgemeinen Wahrnehmung eher hinter anderen zurücktreten, wenn sie nicht gar negativ konnotiert werden.

Im Vordergrund des Werkes steht nicht Thomas von Aquin, der seit der Neuscholastik des 19. Jh.s in römisch-katholischen Kreisen als »Normalphilosoph und -theologe« gilt, obwohl natürlich auch er hier ausführlich bedacht wird, sondern Johannes Duns Scotus, mit dessen Denken nach Auffassung etwa der Anhänger der »Radical Orthodoxy«, die in den letzten Jahren viel von sich reden machte, angeblich die mittelalterliche Synthese von Philosophie und Theologie zerbrach. »Extremer Voluntarismus« und damit einhergehend eine Abwertung der menschlichen Vernunft lauten die gegen das Denken des 1308 in Köln allzu jung verstorbenen schottischen Franziskaners gerichteten Vorwürfe. Dass dies zu sehr an der Oberfläche bleibt und weder den Intentionen des Scotus noch seinen denkerischen Leistungen gerecht wird, versucht H. vor allem im zehnten Kapitel zu zeigen. Hier arbeitet er dessen Bedeutung für ein Verständnis von Freiheit heraus, für das diese nicht in erster Linie eine Hinordnung auf als richtig erkannte Ziele ist, sondern ursprüngliche Selbstbestimmung des Menschen in einer geschichtlichen Welt, in der dieser sich mit Hilfe seiner Vernunft immer wieder neu orientieren muss.

H. macht deutlich, dass diese den heutigen Menschen umtreibenden Fragen, die in der Antike so weder gestellt noch beantwortet wurden, keineswegs erst in der Neuzeit aufgekommen sind. Sie verdanken ihr erstes Auftreten der keineswegs konfliktfreien Be­gegnung von antikem Denken in Notwendigkeiten (»Nezessitarismus«) und jüdisch-christlichem Offenbarungs- und Geschichtsverständnis, das die Möglichkeit von unableitbar Neuem zu erklären suchte. Das etwas nachgeschoben wirkende 13. Kapitel arbeitet die Rolle heraus, die der ansonsten wegen seiner Sexualethik und Gnadenlehre gegenwärtig eher in Verruf geratene Kirchenvater Augustinus für die Herausbildung des modernen Geschichtsdenkens hat, auch wenn er dazu »nur« wichtige Bausteine lieferte. Gerade die franziskanischen Theologen des Mittelalters wie Duns Scotus und Wilhelm von Ockham, dessen Metaphysikkritik ein eigenes Kapitel gewidmet ist, stehen auf seinen Schultern. Auch der vielfach lediglich als Lehrer des Thomas von Aquin wahrgenommene und allgemein viel zu wenig gewürdigte Albertus Magnus, d er in Köln einen Schwerpunkt seines Wirkens hatte, und sein ebenso originelles wie innovatives Philosophieren, das auch auf Naturbeobachtung und gezielte Experimente zurückgriff, kommt in den Blick.

Alle diese Denker werden weniger biographisch abgehandelt als in ihren Fragestellungen und Argumentationsgängen gewürdigt. So werden sie zu echten Gesprächspartnern für gegenwärtiges Philosophieren, ohne ihren eigenen historischen Kontext verlassen zu müssen und vordergründig aktualisiert zu werden. Auf diese Weise entsteht zugleich ein facettenreiches Bild des von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit dauernden »langen« Mittelalters. Dieses ist weder das »dunkle Zeitalter«, wie es die Mittelalterkritik von Humanismus, Reformation und Aufklärung bis hin zu heutigen oberflächlichen Einschätzungen behauptet, noch jenes idealisierte Refugium, als das es seit Romantik und Restauration von mit der Komplexität der jeweiligen Gegenwart Überforderten gern ge­sehen wird, sondern eine ungemein spannungsreiche Epoche, in der auf höchstem Niveau gedacht und kontrovers diskutiert wurde. Diese Diskussionen besonders im Hinblick auf grundlegende Fragen des Selbstverständnisses des Menschen und der Erklärung seiner Welt nachgezeichnet zu haben, ist das Verdienst des vorliegenden Buches. Es basiert auf zuvor separat veröffentlichten Aufsätzen (vgl. das Quellenverzeichnis, 315 f.), die hier in teilweise überarbeiteter Form neu abgedruckt werden. Eine knappe Einleitung und ein ebenso kurzes Resümee sorgen dafür, dass daraus durchaus ein Ganzes im Sinne der im Titel genannten Fragestellung wird.

Die einzelnen Kapitel sind von unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad. Ihre Lektüre erfordert philosophisches Interesse und die Bereitschaft, sich auf komplexe Sachverhalte einzulassen. Auch wenn lateinische Begriffe und Zitate immer übersetzt werden, sind Lateinkenntnisse förderlich, um die Begrifflichkeit der mittelalterlichen Philosophen in rechter Weise zu würdigen und ihren Dis­kurs nachzuvollziehen. Da an manchen Stellen Begriffe und Zu­sam­menhänge vorausgesetzt werden, die andernorts erklärt werden, wäre ein Sach- und Personenregister überaus hilfreich, um solche Querverbindungen herzustellen und die Konsultation zu erleichtern. Auch ein Verzeichnis der in den Anmerkungen zitierten Quellen und der verwendeten Literatur wäre wünschenswert. Wer die Mühe des Mitdenkens nicht scheut, wird durch diese von gegenwärtigen Fragestellungen ausgehende Präsentation mittelalterlichen Denkens reich belohnt.