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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

489–492

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Spangenberg, Volker [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Luther und die Reformation aus freikirchlicher Sicht.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2013. 198 S. = Kirche – Konfession – Religion, 59. Geb. EUR 39,99. ISBN 978-3-8471-0133-8.

Rezensent:

Volker Leppin

Nachdem die Mitte der Lutherdekade schon überschritten ist, kann man langsam den Eindruck gewinnen, dass es doch keine ganz schlechte Idee war, so früh mit der Vorbereitung der Feierlichkeiten 2017 zu beginnen: Erst nach und nach wurden sich die Verantwortlichen bewusst, dass das große Jubiläum nicht nur die evangelischen Landeskirchen in Deutschland betrifft, sondern auch ihre Glaubensgeschwister weltweit, die Katholikinnen und Katholiken und nicht zuletzt auch: die Freikirchen. Sollte es nicht gelingen, sie angemessen zu hören und zu beteiligen, würde dies einen fatalen Rückfall hinter den Stand der ökumenischen Gespräche bedeuten, wie er durch die Vergebungsbitte des Lutherischen Weltbundes gegenüber den Mennoniten im Jahre 2010 erreicht wurde.

Da kommt es gerade recht, dass Volker Spangenberg vom freikirchlichen Theologischen Seminar Elstal eine Aufsatzsammlung zur Thematik »Luther und die Reformation aus freikirchlicher Sicht« zusammengestellt hat. Er vereinigt Beiträge einer Tagung der freikirchlichen Hochschulen im Jahre 2012 mit zum Teil schon zuvor anderweitig abgedruckten einschlägigen Texten und neuen Originalbeiträgen. Entstanden ist ein facettenreicher, freilich nicht ganz überschneidungsfreier Band, der das Thema in drei Ebenen aufschlüsselt, die sich durch die Lektüre rasch klarer ergeben als durch die Gliederung des Bandes. Dieser enthält Beiträge zu historischen Bezugnahmen der Freikirchen auf Luther, zu systematischen Verhältnisbestimmungen und zu den Folgen für die Feierlichkeiten 2017.

Auch als kritischer Spiegel landeskirchlicher Gesangbuchkultur liest sich der Beitrag von G. Balders über »Luthers Lieder in freikirchlicher Rezeption« (9–30) lehrreich – etwa sein Hinweis auf die gegenüber Paul Gerhardt deutlich intensivere Rezeption Luthers in offiziellen Gesangbüchern: Der Reformator habe eben »unter Denkmalschutz« gestanden (9). Ebendies galt aber in Folge der Aufklärung gerade in der Zeit des Aufkommens der Freikirchen nicht. So erklärt Balders die sehr disparate Lutherrezeption in den von ihm statistisch erhobenen und dann inhaltlich-kontextuell in-terpretierten Gesangbüchern. Als weitreichende Gemeinsamkeit kann man hier neben zwei Weihnachtsliedern nur »Ein feste Burg ist unser Gott« und »Aus tiefer Not schrei ich zu dir« feststellen. Gewitzt stellt auch R. Gebauer in seinem Beitrag zum Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung bei Luther und Wesley (89–106) einen Bezug zu einer über die Freikirchen hinausreichenden Be­deutung heraus: Die Methodisten hätten der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre deswegen zustimmen können, weil hier entscheidende Aussagen Luthers relativiert worden seien (89). Mit großer Deutlichkeit hebt Gebauer nun die Unterschiede der beiden zentralen Gestalten in der Frage der Zuordnung von Recht fertigung und Heiligung und des für Wesley wenigstens als »grundsätzliche Wesensbestimmung der christlichen Existenz« nicht akzeptablen Simul iustus et peccator hervor (93), um dann die Differenzen zwischen beiden biographisch und theologisch zu erklären; in diesem Zusammenhang überrascht allerdings der unproblematische Rückgriff auf veraltete Positionen der Lutherforschung zur reformatorischen Entdeckung und jedenfalls doch recht alte und alles andere als unstrittige (Joest) zur Anthropologie. Eine interessante Wendung nimmt Gebauers Beitrag durch eine biblische Reflexion, nach welcher, so der Neutestamentler an der methodistischen Hochschule Reutlingen, »dem Verständnis Lu­thers der Vorzug zu geben«, dieses freilich durch Anregungen Wesleys vor Vereinseitigungen zu bewahren sei (105). Zu diesem spannenden, aber auch spannungsreichen Beitrag stellt der aus einer älteren Publikation übernommene und bearbeitete Aufsatz von M. Marquardt (107–127) gewissermaßen das versöhnliche Pendant dar, indem der Autor am selben Thema den Ausgang von der Differenz zwischen Wesley und Luther nimmt und die Etappen zu einem ökumenischen Ausgleich bis hin zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigung nachzeichnet.

Damit ist die Brücke zu systematischen Verhältnisbestimmungen geschlagen: U. Swarat, Systematiker am Theologischen Seminar Elstal, fragt nach Möglichkeiten einer baptistischen Aufnahme der Theologie Luthers jenseits der Problematik der Taufe (31–53). Diese Themenstellung gibt eine Perspektivierung vor, von welcher man keine Rekonstruktion der Theologie Luthers für sich erwar-ten kann. Swarat sucht vielmehr nach Anknüpfungspunkten und arbeitet entsprechend an einem rezipierbaren Lutherbild: Bei der Darstellung der Rechtfertigungslehre betont er die auch bei Luther zu findenden Aspekte einer Hochschätzung der Ethik und des Partialaspektes des Simul iustus et peccator (38), nach meinem Eindruck freilich mit der Gefahr, den Totalaspekt unterzubestimmen. Die Zwei-Regimenten-Lehre liest Swarat stark unter dem Aspekt der Begrenzung weltlicher Obrigkeit und macht in diesem Sinne, vielleicht doch näher an Troeltsch als an Luther, »in diesem Punkt die Vertreter des Freikirchentums« zu den »wahren Erben der Reformation« (53).

Die vielleicht interessanteste Argumentation findet sich in seinen Ausführungen zum allgemeinen Priestertum, die er nutzt, Baptisten daran zu erinnern, »dass das allgemeine Priestertum keineswegs im Gegensatz zu einer Berufung oder Ordination einzelner Amtsträger steht« (46). In seinem anregenden Beitrag zum Wort-Gottes-Begriff Martin Luthers und seiner Bedeutung für freikirchliche Ekklesiologie (153–170) sucht M. Iff nach Impulsen aus Luthers Wortverständnis und integriert diese in freikirchlicher Perspektive, insofern er die Passivität des Menschen im freikirchlichen, aber durch Aufnahme Härles und Joests doch wohl auch im lutherischen Sinne als »›responsorische‹ Passivität« bestimmt (170); allerdings ist die angestrebte Einigkeit manchmal eher assoziativ als konzeptuell nachvollziehbar – und man wird auch speziell für die Lutherdeutung fragen müssen, ob ein eventuell auf das Jahr 1512 zu datierender (von Brecht allerdings für 1518 in Anspruch genommener) Text tatsächlich systematisch so belastbar ist, wie Iff den Anschein er-weckt (165–168). Beide systematisch-theologische Beiträge sind insofern auch ein Beitrag zu der Frage einer angemessenen Hermeneutik Luthers im innerevangelischen ökumenischen Austausch.

Naheliegenderweise zeichnet sich in dem Band ein Schwerpunkt solcher Beiträge ab, die direkt die Folgen für das Jahr 2017 bedenken. Sie sind über das ganze Buch verteilt. Dies mag irritieren, folgt aber einer eigenen Sachlogik: Dass E. Geldbachs Reflexion auf den evangelischen Charakter des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (55–70) trotz seiner Perspektivierung auf das Jahr 2017 direkt hinter Swarats Studie steht, hat damit zu tun, dass und wie Geldbach in unerbittlicher Schärfe und mit sehr nachvollziehbaren Argumenten Passagen der Perspektiven des Beirates für das Kuratorium zur Vorbereitung des Jubiläums kritisiert. Ihnen wirft er vor, dass hier mit der Trennung von Staat und Kirche und einem unhierarchischen Kirchenverständnis Aspekte für das an den Landeskirchen orientierte Jubiläum vereinnahmt werden, die zumindest mit besonderer Deutlichkeit mit den Freikirchen verbunden sind (Geldbach formuliert dies schärfer). So spricht Geldbach durchaus von einer Distanz zum Hauptstrom der deutschen Reformation, aber von einem am Evangelium selbst zu messenden evangelischen Charakter der Freikirchen, welcher 2017 Beachtung finden sollte und muss. Diese Kritik setzt A. Strübind in ihrem Beitrag zu »Erbe und Ärgernis« fort (71–87), in dem sie die grundlegende Frage aufwirft, was aus freikirchlicher Sicht 2017 überhaupt zu feiern ist. Ihrer Kritik an den Perspektiven des Beirats, dass hier eine veraltete »Anschauung einer ›Hauptreformation‹ mit Randgruppen fortgeschrieben« wird und »mangelnde Differenzierung« betrieben wird (79), sollte nicht ungehört verhallen: Diese Thesen müssen neu bedacht und formuliert werden, umso mehr, als Strübind auch zur Selbstkritik an der »Geschichtsvergessenheit« der Freikirchen aus der nonkonformistischen Tradition weiterschreitet (82). Dass dies für die Methodisten anders liegt, belegt wie schon die genannten Beiträge von Gebauer und Marquardt auch der Aufsatz von U. Schuler »Was tun mit 2017« (129–152), der weitgehend aus den historischen Bezügen Wesleys zum Luthertum schöpft und als Perspektive für das Jubiläum in sympathischer Weise eine »fortgesetzte ökumenische Auslegungsgemeinschaft« empfiehlt (152).

Den bemerkenswerten Schlusspunkt des gesamten Bandes stellt der erhellende, auf eine ältere Publikation zurückgehende Beitrag von W. Fleischmann-Bisten über »Die Reformations- und Lutherjubiläen in freikirchlicher Rezeption« dar (171–190). Auf einer umfangreichen, ein erstaunliches Spektrum abdeckenden Quellenbasis zeigt Fleischmann-Bisten, wie Vertreter von Freikirchen immer wieder anlässlich von Reformationsjubiläen darauf hinwiesen, dass auch sie Erben der Reformation sind, und widerspricht in seiner aktuellen Anwendung zu Recht »mit aller Deutlichkeit […] der These, der ›linke Flügel‹ der Reformation gehöre grundsätzlich nicht zu den Kirchen der Reformation« (189). Diesem Widerspruch ist voll und ganz zuzustimmen.

Nach der Lektüre dieses aspektreichen Buches kann man nur hoffen, dass den Vertretern der Freikirchen mit demselben Maß an Selbstkritik und ökumenischer Offenheit begegnet wird, wie sie selbst es hier an den Tag legen. Unter den vielen Büchern für 2017 gehört dieses zu den besonders profilierten und bedeutsamen.