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Ausgabe:

April/2014

Spalte:

450–451

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Vialle, Catherine

Titel/Untertitel:

Une analyse comparée d’Esther TM et LXX. Regard sur deux récits d’une même histoire.

Verlag:

Leuven u. a.: Peeters 2010. LVIII, 406 S. = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 233. Kart. EUR 76,00. ISBN 978-90-429-2285-3.

Rezensent:

Beate Ego

Die jüngere Forschung zum Esterbuch hat in vermehrtem Maße ihr Augenmerk auf die Tatsache gelenkt, dass die Estererzählung in mehreren Versionen vorliegt. Neben dem Masoretischen Text (MT) und der Septuaginta (LXX) existiert noch ein weiterer griechischer Text, der sogenannte A-Text, sowie die Version der Vetus Latina, die ebenfalls ein eigenes Gepräge aufweist. Ein besonderes Interesse galt dabei der Frage nach der Beziehung der einzelnen Versionen untereinander. Während ein Teil der Forschung eine Vorstufe des A-Textes für die älteste Estertradition überhaupt hält (so u. a. Clines, Jobes et al.), wollen andere im A-Text nur eine Überarbeitung der LXX sehen (so de Troyer; Tov). Innerhalb dieses breiten Forschungsrahmens, der auch in dem hier zu besprechenden Werk vorgestellt wird (XXXIV–LVIII), konzentriert sich Catherine Vialle, die hier eine überarbeitete Version ihrer Promotionsarbeit vorlegt, auf MT und LXX. Außerdem verweist sie darauf, dass LXX in der Regel als eine Art »Hybridtext« behandelt wird und nicht in seiner Gesamtheit als eigenständiges Werk (XXV).

Das Buch besteht aus zwei großen Teilen, einem zum MT und einem zur LXX. Zunächst wird der gesamte Text von MT (3–62) bzw. LXX (165–242) kursorisch kommentiert, um dann in einem wei­teren Abschnitt jeweils ein Portrait der Protagonisten zu entwerfen und die wichtigsten Themen wie das Gesetz, die Bankette, Gottes- und Menschenbild zu behandeln (MT: 63–164; LXX: 243–340). Eine kurze Zusammenfassung schließt das Werk (341–348). Ein Appendix enthält zudem noch knappe Ausführungen zur Frage der Kanonizität des Buches in Judentum und Christentum (398–404).

Aufgrund ihrer Analyse der beiden Texte kommt V. zu folgendem Schluss: MT, der sich häufig des Stilelements der Übertreibung und der Ironie bedient, lässt seine Leser in gewisser Art und Weise überrascht zurück, wobei insbesondere die Frage nach dem Grund von Mordechais Verweigerung der Proskynese offen bleibt. Sie kommt zu einer recht negativen Einschätzung der Figur Mordechais, da sie diesen ehrgeizig und zum Teil auch rachsüchtig charakterisiert. Vor diesem Hintergrund kann sie MT als weisheitliche Erzählung charakterisieren, die zu einer kritischen Reflexion über die vermeintlichen Charaktereigenschaften Mordechais auffordert. In dieselbe Richtung interpretiert V. auch die Tatsache, dass MT den Namen Gottes nicht explizit nennt. Dieses Gottesschweigen hat die Funktion, bei den Rezipienten dieses Werkes einen Reflexionsprozess über das Wirken Gottes auszulösen.

Der Text der Septuaginta dagegen betont einen anderen Aspekt, wenn hier Gottes Vorsehung und heilsgeschichtlicher Plan im Vordergrund stehen. Da neben den jüdischen Protagonisten auch der Blick auf die gesamte Menschheit geworfen wird, siedelt V. die LXX-Version des Esterbuches in der jüdischen Diaspora an.

Die Ausführungen V.s haben über weite Strecken einen stark paraphrasierenden und oft auch langatmigen Charakter. Traditionsgeschichtliche Dimensionen, Überlegungen zur Literarkritik (s. z. B. die nur knappen Ausführungen zu den Gebeten) oder zur Datierung der Versionen spielen keine Rolle. Das Werk ist für die Esterforschung aber insofern interessant, da hier LXX insgesamt und nicht nur – wie häufig der Fall – die Zusätze der Interpretation unterzogen werden. Dadurch eröffnen sich interessante und wichtige Perspektiven im Hinblick auf die Charakterisierung der Figuren. So ist es – um hier nur ein Beispiel herauszugreifen – für das Verständnis des Gebets Esters im Hinblick auf die detaillierte Beschreibung der Esterfigur z. B. interessant, darauf hinzuweisen, dass Mordechai seine Nichte dazu auffordert, sich mit ihrem Gebet an Gott zu wenden (so ein mögliches Verständnis von LXX Est 4,8; hierzu 214). An dieser Stelle enthält das Buch wichtige Ansätze, die man noch weiter ausbauen und darlegen könnte (s. z. B. zu Est 2,20 mit dem Bezug zum Gebet Esters, der hier nicht entfaltet wird). Auf jeden Fall werden hier interessante Hinweise gegeben, auf die eine Studie, die auch diachrone Fragestellungen aufnimmt, aufbauen und anknüpfen kann.