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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

635-638

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Preul, Reiner

Titel/Untertitel:

Evangelische Bildungstheorie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 422 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03216-7.

Rezensent:

Bernhard Dressler

Wenn ein allseits geschätzter Kollege aus dem Ruhestand heraus eine voluminöse »Evangelische Bildungstheorie« vorlegt, an der – so der Klappentext – »künftig kein einschlägig arbeitender Theologie, Pädagoge, Soziologe oder Philosoph vorbeigehen (sollte)«, verdient das allemal besondere Beachtung, muss sich aber auch an diesen hohen Erwartungen messen lassen. Als »Gegenstand« dieses Buches soll »der gesamte menschliche Bildungsprozess und das gebildete Personsein als dessen – lebensgeschichtlich gewiss variables – Resultat« (7) gelten, so Reiner Preul im Vorwort. Es geht also nicht speziell um »religiöse Bildung«, die folgerichtig, etwa mit einem kurzen Blick auf den schulischen Religionsunterricht, nur am Rande vorkommt. P. will jenes weite Feld beackern, für das Karl Ernst Nipkow in den letzten Jahrzehnten eine »evangelische Bildungsverantwortung« über religiöse Bildung hinaus reklamiert hat. Es liegt in dieser Linie, wenn P. sich mit großer Zustimmung des Rezensenten immer wieder gegen die Verzweckung von Bildung als »Zurüstung des Individuums für den Nutzen und Erfolg in der industriellen Arbeitswelt und als Mittel zum sozialen Aufstieg« (8) wendet, aber auch gegen jede »bildungsbürgerlich-äs­thetizistische« Engführung von Bildung (69).
Am Beginn stehen wichtige Begriffsklärungen und theoretische Grundlegungen: P. rekonstruiert (§1) den gegenwärtigen Bildungsdiskurs (»Frage nach einer neuen Bildungstheorie«), insofern man von einer »Wiederentdeckung der Bildung« reden könne, erörtert dann (§ 2) Positionen der »Bildungskritik« und bestimmt (§ 3) den »Bildungsbegriff«. Es folgen dann eine »theologische Fundierung und Akzentuierung des Bildungsbegriffs« (§ 4) und die »Durchsicht und konstruktive Auswertung klassischer Bildungstheorien« (§ 5). Die letzten drei Kapitel fragen konkret nach den »Bildungsinstitutionen« (§ 6), der »Bildungspolitik« (§ 7) und schließlich (§ 8), nach dem, was »gebildetes Christsein in der Gegenwart« bedeuten könnte. Einzelne Kapitel, insbesondere die historischen und systematisch-rekonstruktiven Blicke auf bildungstheoretische Grundfragen, sind mit einigem Gewinn zu lesen.
Es ist natürlich völlig konsensfähig, als »Ausweis von Bildung nicht irgendwelche Bildungsinhalte oder gar Wissensbestände« gelten zu lassen, sondern »Haltungen, Dispositionen einer gebildeten Person.« Folgerichtig solle »nach einem kategorialen, fundamentalanthropologisch zu explizierenden Verständnis von Bildung« gefragt werden (17). Auch wenn die kritische Analyse gegenwärtiger »staatlicher Bildungspolitik« (316–333) schärfer ausfallen könnte, befindet sich P. auch hier im bildungstheoretischen Mainstream. Zuzustimmen ist auch, dass »Bildung im Kern Selbstbildung« ist, sich sowohl gegen jede Form von »zielsicherer« Operationalisierung (69 u. ö.) als auch gegen Perfektibilitätsutopien versperrt, wie sie dem Menschen als einem Wesen »endlicher Freiheit« nicht angemessen sind (passim). Es ist diskutabel, unter Bildung »gesteigerte und über sich selbst aufgeklärte Handlungsfähigkeit« zu verstehen, wenn man unter den Begriff des Handelns auch jede Form geistig-kognitiver Aktivität fasst (83 f. u. ö.). Näher klärungsbedürftig wäre dann freilich, inwiefern »jeder Gebrauch endlicher Freiheit auf Passivität bezogen ist« (88) und die »passionale Seite des subjektiven Bildungsgeschehens« menschlicher Verfügung entzogen« bleibt (242).
Neben dem Konsens ist aber auch Widerspruch geboten: So irritiert es, dass P. immer wieder Bildung mit »Reifung« konnotiert (ohne diesen Begriff präzise von einem organizistischen Missverständnis abzugrenzen), obgleich in bildungstheoretischer Perspektive die Entwicklung einer Person grundsätzlich von organischer Reifung und sozialisatorischer Prägung unterschieden wird. Einerseits werden alle Aspekte menschlicher Entwicklung unter den Bildungsbegriff subsumiert, so dass ungebildete Menschen recht eigentlich kaum vorstellbar sind. Andererseits werden insbesondere in § 8 »Konturen« eines »gebildeten Christseins« entwickelt, die (entgegen einem mehrfach betonten Kriterium) heute kaum noch außerhalb der letzten Reste bildungsbürgerlicher Milieus anzutreffen sind. Dass Klafkis Konzept »epochaltypischer Schlüsselprobleme« ohne Weiteres als »einschlägig« gilt (93), wird man nur sagen können, wenn man dessen scharfe und m. E. zutreffende Kritik etwa durch Dietrich Benner ignoriert. Fraglich erscheint mir, ob man Bildung in einer Art universalwissenschaftlicher Perspektive einem »geschichtlichen Ort […] im Zusammenhang eines kosmischen Entwicklungsprozesses« zurechnen kann, »den man üb-licher­weise Evolution nennt«, und in diesem Zusammenhang von »drei aufeinander aufbauenden Bildungsprozessen« (»kosmisch«, »gattungsgeschichtlich« und »individuell-personal«) re­den kann (76).
Grundsätzlicher ist der Einwand, dass P. die Autonomie der Pädagogik als Wissenschaft nicht gebührend anerkennt, wenn ihr entgegengehalten wird, sie komme an »Anleihen bei Philosophen, Theologen und Kulturtheoretikern« nicht vorbei, und sodann darunter verstanden wird, der Bildungstheoretiker müsse »in eigener Person auch Philosoph oder Theologe oder Kulturwissenschaftler« sein (21). Wenn man (wie z. B. Hartmut v. Hentig) »Wachheit und Offenheit für letzte […] Fragen zum hinreichenden Bildungsziel erklärt«, sieht P. darin »de facto« das Plädoyer für eine »agnostische« Positionierung der Bildungstheorie (25). Er verknüpft diesen Vorhalt mit der Folgerung, die »fatale«, gar »ruinöse« Konsequenz daraus sei, dass der »christliche Glaube« dann »selbst kein Element von Bildung mehr sein könnte« (26). »Glaube als Bildung« (28) ist nun aber eine Formel, die weder dem Glauben noch der Bildung – zumal im Horizont einer säkularen Gesellschaft und eines von christ­-licher Bevormundung befreiten Bildungssystems – gerecht werden kann. Wenn es heißt: »Glaube als Bildung ist gleichbedeutend mit Bildung durch den Glauben«, wird Bildung einerseits theologisch provinzialisiert, zugleich aber auch begrifflich entgrenzt bzw. trivialisiert, wenn kein Glaube ohne Bildung vorstellbar erscheint ( 123). Folgerichtig wird Humboldts (aus heutiger Sicht gewiss nicht ungebrochen und unkritisch zu rezipierendem) Bildungsverständnis eine geradezu »solipsistische« Engführung vorgeworfen, »der jeder religiöse und somit auch christliche Horizont« fehle (141). P.s Hoffnung, dass sein »Ansatz über die gesamtchristliche Position hinaus kommunikabel« ist (7), erscheint mir so doch leider eher trügerisch. Wenn »der Glaube einer Person« als »das Fundament […] ihrer Bildung« verstanden wird, entscheidet sich P. für einen Theorieansatz, mit dem er nicht nur nach den wechselseitigen Anschlussmöglichkeiten zwischen Glaube/Religion/Theologie und einer auch allgemein zustimmungsfähigen Bildungstheorie fragt. Vielmehr macht er eine evangelisch-christliche Position gel tend, die, wenn überhaupt, allenfalls für eine Theorie christlich-religiöser Bildung, nicht aber für allgemeine Bildung denkbar wäre. Ich sehe nicht, wie das Gespräch mit säkularen erziehungswissenschaftlichen, soziologischen oder philosophischen Positionen auf diese Weise geführt werden kann. Es gibt – mit Folgen für ihr Denken und Handeln – christliche Pädagogen, aber keine christliche Pädagogik, ebenso wenig wie eine christliche Politik.
Wahrscheinlich liegt der tiefere Grund dafür darin, dass die für die neuzeitliche Bildungstheorie zentrale Thematik abgeblendet bleibt, wie nämlich nach dem Ende der ständischen Ordnung, die die Lebensschicksale durch Geburt festlegte und auf begrenzte Handlungsebenen einschränkte, die Partizipation am kulturellen Gesamtleben der bürgerlichen Gesellschaft ermöglicht werden kann. Dieses Gesamtleben ist bereits bei Humboldt und Schleiermacher nur als ausdifferenzierter Zusammenhang unterschiedlicher kultureller Praxen mit unterschiedlichen Rationalitätsmodi zu verstehen. Dazu gehört, dass auch der Autonomiegewinn des pädagogischen Feldes selbst seit Beginn der kulturellen Moderne nur als Phä nomen seiner Ausdifferenzierung gegenüber anderen kulturellen (nicht zuletzt: religiösen) Praxen zu verstehen ist. So sah schon Schleiermacher nicht in der Theologie, sondern in der philosophischen Ethik den Begründungsort der Pädagogik. Zu­gleich ermöglicht die interne Ausdifferenzierung des pädagogischen Feldes die Unterscheidung zwischen Sozialisation, Erziehung und Bildung, wie sie etwa den Vorstellungen des Reformationszeitalters noch fremd war.
Die Problematik, wie nun (und ob überhaupt!) am Orte des Subjekts die differenzierten und weitgehend inkompatiblen Rationalitäts- und Handlungsmuster zusammengehalten werden können (eine Problematik, die sich in der Gegenwart ja noch zu­spitzt), bleibt in P.s Bildungstheorie weitgehend unbeachtet. Dazu reicht es eben nicht, »den Sachverhalt des Pluralismus hinreichend zu berücksichtigen« (24), wie P. mehrfach betont.
Mit wenigen Abstrichen hätte dieses Buch auch vor 20 oder 25 Jahren geschrieben werden können. Es bleibt z. B. wirklich hinter dem zurück, was zeitdiagnostisch zu den Umbrüchen familialer Sozialisation zu sagen ist, wenn die Bedeutung der Familie als »Bildungsinstitution« u. a. mit soziologischer und psychoanalytischer Literatur aus den 1960er Jahren herausgearbeitet wird. Insgesamt wären neuere pädagogische Arbeiten zum prekären Status von Identität (wie etwa von Heiner Keupp) oder kultur- und wissenssoziologische Arbeiten zu postbürgerlicher Religiosität und Sozialität (wie etwa von Armin Nassehi) heranzuziehen. Aber auch wichtige bildungstheoretische Impulse der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart werden nicht zur Kenntnis genommen. So verdienstvoll die bildungstheoretischen Arbeiten des (zu Recht) öfter zitierten Karl Ernst Nipkow sind: Der für die Erneuerung des bildungstheoretischen Nachdenkens (nicht nur) im religionspädagogischen Diskurs maßgebliche Peter Biehl wird zum Beispiel nur ein Mal am Rande erwähnt. Gleiches gilt für Dietrich Benner, den Autor, der sich unter den Erziehungswissenschaftlern (neben dem ebenfalls ignorierten Jürgen Oelkers) am intensivsten um eine theologisch anschlussfähige Bildungstheorie bemüht.
Man möchte ja gerne zustimmen: Eine »Dogmatik« lässt sich »in bildungstheoretischer Lesart umso leichter« erschließen, »je weniger sie der alten Loci-Methode folgt und je mehr sie sich zur kritischen und systematischen Rechenschaft eines christlichen existenziellen Suchens nach Wahrheit und Klar in der Gegenwart […] gestaltet« (150). Von einem Buch dieses Titels und dieses Anspruchs erhofft man sich aber doch mehr zeitdiagnostische Kraft und interdisziplinäre Gesprächsbereitschaft der Theologie – anstelle des Versuchs, allgemeine Bildung theologisch zu normieren.