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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

631-633

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Altenburg, Gerhard

Titel/Untertitel:

Kirche – Institution im Übergang. Eine Spurensuche nach dem Kirchenverständnis Ernst Langes.

Verlag:

Berlin: EB-Verlag Dr. Brandt 2013. 634 S. = Kirche in der Stadt, 21. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-86893-122-8.

Rezensent:

Eberhard Winkler

»Mit Ernst Lange sind wir noch lange nicht fertig«, schreibt Peter Cornehl, der Erstgutachter dieser Hamburger Dissertation von Gerhard Altenburg in seinem Geleitwort. Er weist darauf hin, dass Lange ein durch und durch kontextueller Theologe und ein überaus sensibler, politisch wacher Zeitgenosse war. Die Arbeit, die mehr als eine Spurensuche enthält, bestätigt diese Urteile. A. be­dient sich der »kollektiven Biographik«, d. h. er setzt die biographischen Phasen in Beziehung zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Auf ein Einleitungskapitel zum Forschungsstand, zur Entdeckung Langes als Gestalt der Geschichte der Praktischen Theologie und zur Arbeitsweise A.s folgen vier Hauptteile, die jeweils einen biographischen Abschnitt unter dem Aspekt des sich ändernden Kirchenverständnisses untersuchen.
Teil A (41–210) beschreibt »Ernst Langes Weg von der Weimarer Zeit bis zum Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg (1927–1954)«. Langes Vater, ein anerkannter Psychiater, und seine Mutter, eine Ärztin jüdischer Abstammung, lebten in freundlicher Distanz zur Kirche. Die Mutter nahm sich 1937 das Leben, und 1938 starb auch der Vater, der den Breslauer BK-Pfarrer Lic. Georg Noth zum Vormund seiner Kinder (Ursula war 1922 geboren) bestimmt hatte. Aus dem Elternhaus nahm Lange eine gewisse Außenperspektive mit, aber auch die Kritik an einem unbestimmten Christsein und die Motivation zu Kirchenreformen. Von 1937–1943 erlebte er im re­formpädagogischen Landschulheim Schondorf Kirche als Bestandteil der »humanitas«. An diese Schule erinnerte er sich dankbar, ob­wohl er als »Halbjude« zunehmend unter Ausgrenzung litt und 1943 entlassen wurde. Die später beklagte Erfahrung, nie eine richtige Heimat und ein stabiles Gefühl der Zugehörigkeit gehabt zu haben, dürfte das Kirchenverständnis beeinflusst haben. Von 1943 bis 1945 fand Lange im Breslauer BK-Kreis Gemeinschaft. Seitdem bewegte ihn die Frage, wie im Ende ein neuer Anfang zu finden ist.
Das Kriegsende, das er als Feinoptikerlehrling in Berlin erlebte, ermöglichte ihm einen neuen Anfang, der kirchlich durch die Beziehung zur Stadtmission unter Hans Dannenbaum und privat durch die Verbindung mit einer sozialdemokratisch geprägten Familie bestimmt wurde. 1946 trat er den Falken der SPD bei, und 1947 heiratete er Beate Heilmann, Tochter eines in Buchenwald ermordeten Sozialdemokraten. Theologisch wurde der von Dahlemer BK-Leuten dominierte Unterwegskreis bedeutsam, an dessen Zeitschrift »Unterwegs« Lange mitarbeitete. Damit stand er in der Spannung zwischen der eher konservativ profilierten Stadtmission und linken Barthschülern. Generell neigte Lange dazu, ihm einleuchtende Impulse selektiv aufzunehmen, doch in der genannten Spannung überwog der Einfluss der BK-Leute. Auch im Theologiestudium an der Berliner (Humboldt-)Universität und in Göttingen beeinflussten ihn vor allem BK-Theologen. Im November 1950 wurde er Vikar und amtierte nach der Ordination durch Dibelius als Hilfsprediger im Spandauer Kreisjugendpfarramt sowie in der dortigen Nikolaigemeinde. 1954 nahm er als Jugendberater an der ÖRK-Vollversammlung in Evanston teil. Das ökumenische Engagement blieb zeitlebens für sein Kirchenverständnis wesentlich.
Teil B (211–307) umfasst mit einer zeitlichen Überschneidung in den Nachkriegsjahren die Phase von 1946–1959, die Zeit vom Studium bis zur Dozentur am Burckhardthaus. Kirche ist jetzt das »Hineingerissenwerden in die neue Welt«, die Gottes Tat und zugleich Aufgabe der Menschen ist. Ein eschatologischer Optimismus verbindet sich mit dem Dualismus von alter und neuer Welt. Der Dualismus trennt aber keineswegs Kirche und Welt, sondern die Kirche dient dem Kommen der neuen Welt des Friedens und der Gerechtigkeit. Ökumenische Impulse bestärkten Lange in dem Ziel, die Utopie der responsible society zu verwirklichen. Im Kalten Krieg suchte er einen dritten Weg zwischen den Ideologien, wobei er sich von Josef Hromadka beeindruckt zeigte. Ekklesiologisch wurden Bonhoeffers Impulse »Gemeinsames Leben« und »Kirche für andere« maßgebend. Seine theologischen Einsichten und kirchlichen Programme brachte Lange in selbst verfassten Laienspielen zum Ausdruck, suchte sie aber auch direkt in der Praxis zu verwirklichen.
Teil C (309–444) behandelt die Jahre 1959–1967 mit dem Gemeindeaufbau in der Spandauer Ladenkirche, der Professur für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Berlin (1.4.1963–31.12.1965) und der Arbeit als Pfarrer in Klosterfelde. Im Zusammenhang mit der Beteiligung an der ökumenischen Studie über die missionarische Struktur der Gemeinde trat das funktionale Kirchenverständnis in den Vordergrund. Im Experiment Ladenkirche wollte Lange Kirche als kommunikativ handelnde Gemeinschaft erfahrbar machen und die Realisierbarkeit von Plänen zur Kirchenreform erproben. Die kirchlichen Strukturen einschließlich der Parochie hielt er für reformfähig. A. sieht den hermeneutischen Ausgangspunkt des Kirchenreformers Lange in der Defizitperspektive. Defizite fordern zu Veränderungen heraus, die aber nur in der Perspektive der Verheißung möglich sind. Reformen müssen be­hutsam vom Vorhandenen ausgehen und der jeweiligen Situation gerecht werden. »Kommunikation des Evangeliums« in der sich wandelnden Gesellschaft wird zum Leitmotiv, die homiletische Initiative der »Predigtstudien« ist ein Teil der Bemühungen um Kirchenreform. Der funktionalen Ekklesiologie entspricht eine auf die Situation bezogene und praktikable Homiletik. Dazu gehört eine Aufwertung des Bedürfnisbegriffs.
Teil D (445–547) reflektiert Langes ökumenische Perspektive der letzten Jahre (1968–1974), die »Kirche als Antizipation der geeinten Menschheit« sieht. Von 1968 bis 1970 arbeitete Lange in mehreren Leitungsämtern beim ÖRK in Genf. Die von Wolf Dietrich Marsch übernommene Bezeichnung der Kirche als Institution im Übergang bedeutete ihm jetzt, dass sie ihre Grenzen im Dienst in und an der Welt in der Vorwegnahme der verheißenen Zukunft überschreitet und zur Einheit der Menschheit beiträgt. Dabei ent­-stehende Konflikte sollen durch Konziliarität bewältigt werden. Schon 1970 verließ Lange Genf auf eigenen Wunsch und ging in die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, wo er u. a. im »Arbeitskreis Kirche – wozu?« mitarbeitete sowie eine Analyse zum Antirassismus-Streit in der EKHN erstellte. Am 1.1.1973 begann seine Tä­tigkeit als Oberkirchenrat in der Studien- und Planungsgruppe der EKD in Hannover, wo eine Aufgabe in der Auswertung der ersten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung bestand. Diese letzte Phase endete jäh mit dem Suizid am 3.7.1974.
Der Anhang enthält die Lebensdaten, ein Quellen- und Literaturverzeichnis, das auch die erschlossenen Archivalien nachweist, ein Personen- und ein Sachregister. A. bereichert mit diesem gut lesbaren Werk die Forschungen zur Kirchentheorie, indem er am Beispiel Langes zeigt, wie kontextuelle Praktische Theologie sich im Zirkel von Praxis und Theorie entwickelt. Ob die für Lange so wesentliche Perspektive der Verheißung faktisch von der Defiziterfahrung überlagert wurde und ob sein tragischer früher Tod damit zusammenhängt, ist eine der Fragen, die sich bei der Lektüre dieses interessanten Buches stellen.