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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

609-610

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Wulf, Silke

Titel/Untertitel:

Zeit der Musik. Vom Hören der Wahrheit in Augustinus’ De Musica.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber 2013. 199 S. = Musikphilosophie, 5. Geb. EUR 29,00. ISBN 978-3-495-48576-7.

Rezensent:

Stefan Berg

Augustins Dialog de Musica ist in mehrfacher Hinsicht an einem Übergang loziert: werkbiographisch in der Entwicklung von der paganen Philosophie hin zur christlichen Theologie, konzeptionell innerhalb des disciplines liberales-Projekts (vgl. Retr I,6) am Scharnier zwischen corporalia und incorporalia. Es wäre daher zu begrüßen, wenn dieser Text in der Augustinforschung mehr Beachtung fände. Neben A. Kellers Aurelius Augustinus und die Musik, Würzburg 1993, liegt nun mit dem hier anzuzeigenden Buch von Silke Wulf immerhin eine zweite Dissertation zum Gegenstand vor – entstanden am Institut für Philosophie in Oldenburg.
Es ist immer ein wenig heikel, wenn – wie im vorliegenden Fall – der Rezensent seine eigene Arbeit zum Thema im zu besprechenden Buch nicht zur Kenntnis genommen findet (vgl. S. Berg, Spielwerk, Tübingen 2011, 79–212). Es zeigt sich auf diese Weise zumindest auch, wie willkürlich mitunter die Literaturrezeption bei einem Forschungsgegenstand wie de Musica gerät, für den heute die Disziplinen Musikwissenschaft, (Musik-/Religions-)Philoso­phie und Theologie gemeinsam verantwortlich zeichnen und auf den sich sowohl systematische als auch historische Interessen richten. W. hat nichtsdestotrotz ein überaus lesenswertes Buch vorgelegt, das ich aufgrund seiner Herangehensweise und seinen Ak­zentsetzungen als eine Alternative bzw. Ergänzung zu meinen eigenen religionsphilosophischen Überlegungen begreife.
Die Arbeit ist Kapitel 1 (9–19) zufolge musikphilosophisch perspektiviert und fragt phänomenologisch nach »der Struktur der sinnlichen Hörwahrnehmung, der kognitiven Verarbeitung und Repräsentation des Klangs« (11). Kapitel 2 (20–55) leistet Einordnungen von de Musica in diverse Kontexte. Dabei geht W. auch auf die Beziehung von de Musica VI und Conf. XI ein und betont die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Analysen menschlicher Zeiterfahrung: »zwei Versionen« des »gleiche[n] Modell[s]« (28). Augustins Numeri-System wird in Kapitel 3 (56–76) ausgedeutet als ein »Mo­dell der mentalen Verarbeitungsprozesse, welche zu einer Hörwahrnehmung führen« (59). Dabei solle die »Zahl als Gestal­t(ungs)­prinzip« verstanden werden, »vermittels dessen der Prozeß der Ausformung unveränderlicher Ideale im sich ständig wandelnden, wahrnehmenden Geist […] gedacht werden kann« (63).
Besondere Beachtung verdient Kapitel 4 (77–114). Hier wird eine Interpretation des menschlichen Umgangs mit Musik entwickelt, die den Gedanken des inhaerere deo (vgl. 1Kor 6,14 bzw. de Trin. XIV,14,20) umkreist. Der »Musiker […] inhaeriert jener kreativen Instanz, die mit der Rede von Gott gemeint ist, weil er seine ihm eigene permanent wirksame Kraft in dem selbst hervorgebrachten Wandel der Zeiten empfindet« (90): »der vom Geist hervorgebrachte und wahrgenommene Klang« als »innere Spur seines Schöpfers selbst« (104). Kapitel 5 (115–140) widmet sich dem »Ineinander verschiedener Aufmerksamkeiten« (116) in der Musikwahrnehmung. Dabei komme es zu einem »Zusammenspiel von intentio und attentio, einer intentional gerichteten, iterativ in jedem Jetzt sich wiederholenden aufmerksamen Kraft mit einer adtentativ der Wahrnehmungsbewegung angemessenen, sich ständig wandelnden, andauernden aufmerksamen Grundeinstellung« (ebd.). Beide lassen sich wiederum mit Conf. XI auf die distentio animi beziehen. Das zusammenfassende Kapitel 6 (141–170) fragt nach der »Möglichkeit einer Analogie zwischen göttlichem und menschlichem kreativen Geist« (19) und formuliert: »In diesem wissenden Nicht-Wissen des Zusammenspiels von innerer Fülle und Begrenztheit, Klangkontinuum und apperzeptiver Struktur, schöpferischer Ewigkeit und geschaffener Zeit liegt die Möglichkeit, im Verstehen von Musik zu einem Verständnis von Welt zu gelangen, das die erschaffene Welt weder von ihrem Schöpfer trennt noch sie in einer erschreckenden Abhängigkeit von diesem setzt« (163).
Die Konzentration auf die phänomenologische Analyse der Musikwahrnehmung verleiht der Arbeit einen klaren Fokus sowie eine hohe Dichte und Stringenz. Insbesondere durch das bedachte Heranziehen von weiteren Schriften Augustins werden dabei neue Einsichten in die Gedankenwelt des Dialogs eröffnet. Hervorheben möchte ich insbesondere die überaus produktiven Überlegungen zum inhaerere und zur Aufmerksamkeit. Ich vermisse bei alldem jedoch u. a. eine methodische Reflexion darüber, was eigentlich vor sich geht, wenn ein phänomenologischer Ansatz auf einen im Kern neuplatonisch konzipierten Text bezogen wird. Auch wenn Augustin tatsächlich sehr stark an der individuellen Erfahrung interessiert ist, so ist sie für ihn doch zugleich bloß ein Baustein in einem größeren Gedankengebäude. Dies gerät bei W. für meine Begriffe etwas zu stark aus dem Blick. So bleibt die konzeptionelle Einbettung der musica in das Gefüge der disciplines ebenso vage wie die strenge, auf der Leiter der Hierarchien aufwärtsstrebende Disposition des Dialogs mit seiner Denkbewegung von konkreten sonus zum deus als dem creator omnium. Die vorliegende Darstellung lässt Augustin daher anschlussfähiger für ein modern-subjekti­vistisches Verständnis von Religion wirken, als er es in meinen Augen ist.