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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

606-607

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Tück, Jan-Heiner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Was fehlt, wenn Gott fehlt? Martin Walser über Rechtfertigung – theologische Erwiderungen.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2013. 143 S. Geb. EUR 16,99. ISBN 978-3-451-32658-5.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Der Schriftsteller Martin Walser (*1927) scheint in jüngerer Zeit zusehends von religiösen Themen bewegt. Sein großer Essay »Über Rechtfertigung, eine Versuchung« (2012), der sich in literarischer Unmittelbarkeit an einem (nicht nur) protestantischen Zentralgedanken abzuarbeiten sucht, ist von erheblicher gegenwartstheologischer Relevanz. Der in Wien lehrende katholische Dogmatiker Jan-Heiner Tück hat neun »theologische Erwiderungen« auf diesen Rechtfertigungsessay zu einem ansprechenden Büchlein vereinigt. Zwei kurze Walser-Texte umrahmen die Anthologie: Eingangs wird der im August 2012 veröffentlichte Zeitungsbeitrag »Umgang mit Unsäglichem« erneut abgedruckt, als Epilog folgt am Ende das nicht als Nach-, sondern als »Zuruf« deklarierte Ge­denken an den unlängst verstorbenen Theologen und Priester Michael Felder (1966–2012). Einige der hier versammelten Repliken waren, ganz oder zu erheblichen Teilen, vorab schon anderswo publiziert worden.
Die Eröffnungsstudie des Herausgebers unterzieht den Rechtfertigungsessay Walsers bündiger Analyse. Der Schriftsteller, hält er fest, habe darin »einen Phantomschmerz artikuliert, den viele kennen, aber nur wenige aussprechen: Es fehlt etwas, wenn die Rede von Gott wegbricht oder gesellschaftlich tabuisiert wird« (17). Anregend erscheint dabei zumal der von Walser zwar längst nicht entdeckte, aber doch eindrucksvoll aktualisierte Gedanke, die Texte der Bibel und auch der großen nachbiblischen Theologen, um sie lebensweltlich vermitteln zu können, bei ihrer Literarizität zu behaften, sie also gleichsam als Romane zu lesen. Maßgebender Inspirator dieses Unterfangens wurde ihm der frühe Karl Barth, dessen expressionistischer Sprach- und an Kierkegaard gemahnender paradoxaler Denkstil den Schriftsteller gleichermaßen in seinen Bann zieht: »Karl Barth«, gesteht Walser, »war […] für mich eine Erweckung. […] Jetzt kann ich zugeben, dass ich Karl Barth brauchte« (15). Die von Walser empfundene Faszinationskraft verleitet ihn gar zu der historisch absolut haltlosen, aber im eklektischen Zu­griff des Literaten selbstverständlich zulässigen Übertreibung, in der Theologie des 20. Jh.s sei »durch Karl Barth, und allein [!] durch ihn, die Rechtfertigung noch einmal zum Thema« gemacht worden (14). Tück bleibt nun, auch wenn er diese Übertreibung nicht explizit richtigstellt, keineswegs unkritisch, sondern erlaubt sich drei »theologische Anmerkungen« (30), in denen, an den Schriftsteller adressiert, ein weiterführendes Gesprächsangebot aufscheint. Zum einen sei doch, ausgehend von Walsers »Erweckung«, auch Barths spätere Entwicklung vom dialektischen zum kirchlich-dogmatischen Theologen bedenkens- und deutenswert. Zum anderen stellt Tück die durchaus rhetorisch gemeinte Frage, ob die christologisch zentrierte Erlösungslehre des reifen Barth nicht ein ebenso span nendes Romanprogramm abgeben könnte wie die vom jungen Barth noch radikalisierte Erwählungslehre Calvins, die Walser augenscheinlich so sehr imponiert: »Der Genfer Reformator ist in Basel korrigiert worden, das darf auch am Bodensee nicht vergessen werden« (32). Schließlich sei, was den für die »Kirchliche Dogmatik« so wichtig gewordenen Gedanken der Selbstoffenbarung Gottes betrifft, zu erwägen, ob das von Walser gesungene »Lob der negativen Theologie« nicht am Ende »zum antidogmatischen Dogma gerinnt« (32 f.).
Drei Beiträge widmen sich der von Walser vollzogenen Pauluslektüre. Dabei markiert der kluge Aufsatz von Rainer Bucher, indem er auf die den Schriftsteller offenbar weniger berührende Jesusverkündigung ausgreift, einen neuralgischen Punkt: »Es fehlt daher in Über Rechtfertigung, eine Versuchung, was doch sonst bei Walser nie fehlt und wozu er so viel geschrieben hat […]: die Liebe« (85). Geistreich nimmt Joachim Hake das bei Walser bedachte Verhältnis »Von Neid und Rechtfertigung« (107–123) ins Visier. Dabei würdigt er die auch theologisch höchst ponderable Beobachtung, dass der Neid, diese »Empfindung vollkommener Aussichtslosigkeit« (Walser), »das Gefühl der eigenen (von allen und vielen so oft verschwiegenen) Armut« (108) aufbrechen lässt. Indessen plädiert Hake gegen Walser dafür, den Neid nicht, in vermeinter Fortführung Nietzsches, positiv umzuwerten, »sondern […] ihn innerlich zu verwandeln« (120). Anleitung findet er dafür im Gestus der Bewunderung, der in einem »absichtslose[n] Staunen und Loben« verwurzelt sei und in der Fähigkeit, »Gott loben zu können, ohne sein zu müssen wie er« (117), sein exemplarisches Musterbild finde.
Ulrich H. J. Körtner reflektiert »Über den Fehl Gottes im Ge­spräch mit Martin Walser« (125–140). Dabei zeichnet er den Essay des Schriftstellers kenntnisreich, aber behutsam in die mit ihm korrespondierenden historischen und aktuellen Verhältnisse ein. Zwar täusche sich Walser, wenn er in Barth den »unangefochtene[n] Kirchenvater des 20. Jahrhunderts« (126) zu erkennen glaubt, da dieser Ehrenrang, jedenfalls in der deutschsprachigen Theologie, doch längst wieder an Schleiermacher vergeben sei. Gleichwohl habe Walser die Theologie mit seinem leidenschaftlichen Insistieren auf der Rechtfertigungsfrage wieder an ihr ureigenes Thema, das die christlichen Kirchen derzeit kaum noch als ihre identitätsstiftende Aufgabe ernstnähmen, verwiesen. Selbst die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« von 1999, urteilt Körtner pointiert, sei doch »nur der Schwanengesang der Konsensökumene« (128) gewesen. Der Aufsatz mündet, durch Walsers Leiden an dem offenkundigen religiösen Denotationsproblem angeregt, in eine konzentrierte Meditation über »Sprachverlust und Gotteskrise« (136–140).
Diese und andere Beiträge fügen sich zu einem bunten, harmonisch abgerundeten Strauß. Dass sie aus dem Referenztext Walsers etliche Spitzensätze und Wendungen in mehr- oder vielfacher Wiederholung aufrufen, war dabei wohl nicht zu vermeiden. Auch der kleine Schönheitsfehler, dass Walsers Artikel »Umgang mit Unsäglichem« einmal nach seiner Erstveröffentlichung zitiert wird (67, Anm. 103), obwohl er sich doch im Eingang des Bandes – und damit für den Leser unmittelbar zugänglich – erneut dokumentiert findet, stört den insgesamt angenehmen Eindruck dieser Anthologie nicht oder kaum. Möge sie dem weiteren Gespräch zwischen Theologie und Literatur der Gegenwart eine vielfältig inspirierende An­regung werden.