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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

601-603

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Wulfleff, Patrick

Titel/Untertitel:

Die Freiheit der Gläubigen. Umstrittene Tendenzen der Frömmigkeit in den Anfängen von Chassidismus und Pietismus.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2012. 355 S. = Kirche – Konfession – Religion, 58. Geb. EUR 49,99. ISBN 978-3-89971-932-1.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Diese 2010 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum angenommene Dissertation (Ute Gause) ist mit ihrer komparatistischen, Religionsgrenzen überschreitenden Fragestellung einem hochinteressanten, in der Forschung noch unterbelichteten Thema gewidmet. Zwar gehört die Behauptung einer »Verwandtschaft« zwischen Pietismus und Chassidismus zum Standardrepertoire (kirchen-)historischer Darstellungen, doch welcher Art diese Verwandtschaft ist und was sie im Einzelnen bedeutet, bleibt in der Regel offen. Die Studie hilft, das Terrain zu sichten, auch wenn viele Fragen bleiben. So wird ein »neue[r] systema­tische[r] Zugang« (16) beansprucht: die jeweiligen »allgemeinen« Frömmigkeitsmerkmale sollen, da sie den Gegnern ja auffallen müssen, auf der Basis der antichassidischen und antipietistischen Literatur erhoben und diese Fremdwahrnehmungen dann durch einschlägige Selbstzeugnisse chassidischer wie pietistischer Provenienz »gegengeprüft« werden. So soll ein Diskurs unterschiedlicher Perspektiven entstehen, welcher die jeweilige Frömmigkeit (als Praxis und als praxisorientierte Frömmigkeitstheologie) als »Konstrukt einer Interpretationsgemeinschaft« (17) plausibel macht.
Das Analyseprogramm wird formal konsequent durchgeführt, beginnend mit der Analyse chassidischer Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht gegnerischer Polemik, sehr zu Recht sowohl von Seiten der rabbinisch-orthodoxen Mitnagdim wie der aufklärerischen Haskilim, und entsprechender Bestätigung oder Korrektur durch die Innenansicht (Kapitel 2 und 3). Zur Sprache kommen zentrale Aspekte wie das Konventikelwesen, die Gemeindeordnung (die Führerrolle der Zaddikim als charismatischer Führerpersönlichkeiten, die gleichsam als »lebendige Tora« fungierten), die Relativierung und Umprägung orthodoxer Bildungsideale (»Kabbalisierung« und Emotionalisierung des Tora-Studiums), die Betonung der Freude (Simcha) als Grundstimmung der Frömmigkeitspraxis (unter Einschluss von Askese und Gleichmut), die spezifische Prägung der älteren Konzepte von Kawwana (Betonung der rechten Intentionalität im Tun der Gebote und im Gebet, einschließlich der kabbalistisch-magischen Aspekte) und Devekut (das persönliche »Anhaften« an Gott, an den Zaddik) mit ihren hohen Emotionalisierungs- und Individualisierungsleistungen. Das »absonderliche Gebetsgebaren« der Chassidim weist auf die der »enthusiastischen Herzensreligion« (143) innewohnenden ekstatisch-visionären Ele mente bis hin zum Purzelbaumschlagen. Insgesamt wird eine »Tendenz zu mystischer Innerlichkeit« (167) oder auch kurzum zu »Emotionalisierung, Popularisierung und Individualisierung« konstatiert (169), welche W. zugleich als »Schlüsselbegriffe des 18. Jahrhunderts« identifiziert.
Die Beschreibung des Pietismus konzentriert sich auf den »protestantischen Pietismus«, worunter der lutherische kirchliche Pietismus verstanden wird (Kapitel 4 und 5). Für die Analyse pietis-tischer Frömmigkeitsmerkmale aus der Sicht der Gegner fiel die Wahl angesichts der Fülle des Materials auf die Streitschriften der Acta Pietistica-Sammlung in der Göttinger Universitätsbibliothek (178). Diese boten zugleich Texte zur Verteidigung der pietistischen Sache. Zusammen mit frömmigkeitstheologischen Schriften vor allem von Ph. J. Spener und A. H. Francke sollten jene die pietistische Perspektive von Frömmigkeit und orthodoxer Frömmigkeitskrise typisieren helfen. Besprochen wurden naheliegende, für den Vergleich wichtige Themen wie die Konventikelfrage, das Verhältnis zu Tradition und kirchlicher Autorität (geistliches Priestertum, Sakramente, Kritik am orthodoxen Schulbetrieb, Freies Gebet), »Entzückung und Begeisterung« sowie prägende Momente pietis­tischer Lebensführung wie Bekehrung, Askese und tätige Weltgestaltung. Ein letztes Kapitel fasst die Ergebnisse als »Tendenzen des Frommen (!) in der Neuzeit« in »eher essayistischer Weise« (311) zusammen (Kapitel 6). Demnach waren, nicht eben überraschend, (lutherischer) Pietismus und Chassidismus bemüht, Antworten auf eine »Frömmigkeitskrise« in ihrem jeweiligen orthodoxen Kon< /span>text zu geben, wozu sie ältere Traditionen und Gemeinschafts-formen aufnahmen und weiterentwickelten. Ihre innovatorisch-neuzeitliche Kraft lag demnach ganz in der Ausprägung von »Tendenzen« wie der Hochschätzung religiöser Erfahrung, der Po­pularisierung esoterischer Praktiken auf chassidischer bzw. der Beförderung der religiösen Mündigkeit der Laien auf pietistischer Seite, der Individualisierung der Frömmigkeit sowie der Verbindung von weltflüchtigen Elementen mit innerweltlichem Aktivismus. Die im Titel genannte »Freiheit der Gläubigen« findet sich hier er­staunlicherweise nicht eigens thematisiert.
Auch wenn man am Ende einer solchen Arbeit eigentlich etwas mehr an erhellenden Einsichten über Analogien und Differenzen erwartet, von möglichen christlichen Einflüssen auf den Chassidismus als Frömmigkeitsbewegung ganz zu schweigen, ehrt W. seine Vorsicht. Jedenfalls wird man nicht widersprechen wollen, wenn W. davor warnt, durch allzu unbedarfte Merkmalvergleiche über Religionsgrenzen hinweg kurzschlüssigen Antworten aufzusitzen. Diese sind freilich nicht allein durch das im besten Falle diskur-sive, faktisch aber apologetisch angelegte Gegenüberstellen von Positionen der Streitparteien zu vermeiden. Das eigentliche me­thodologische Problem dringend gebrauchter komparatistischer Studien bleibt hier noch weithin unsichtbar, nämlich der historiographische Umgang mit Strukturanalogien und Strukturdifferenzen in unterschiedlichen konkreten Lebens- und damit auch Frömmigkeitswelten. In jedem Fall hantiert die vorliegende Studie mit einem für die Fragestellung entschieden zu engen Pietismusbegriff, auch wenn man pragmatische Begrenzungen akzeptieren kann. Nur un­genügend wird deutlich, dass der radikale Pietismus viel mehr eigenständiges Vergleichspotential bietet als die dominante Perspektive des lutherischen kirchlichen Pietismus (der am Ende we­nigstens einmal genannte reformierte Pietismus erscheint, nimmt man die Formulierung auf S. 312 ernst, nicht einmal als protestantisch). Möge die Arbeit weitere Studien anregen. Dies wird freilich nicht eben dadurch erleichtert, dass dem Band jede Art von Register fehlt.