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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

591-593

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Rempel, Johannes

Titel/Untertitel:

Mit Gott über die Mauer springen. Vom mennonitischen Bauernjungen am Ural zum Kieler Pastor. Hrsg. v. H.-J. Ramm.

Verlag:

Husum: Matthiesen Verlag 2013. 536 S. m. Abb. = Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, 57. Kart. EUR 24,95. ISBN 978-3-7868-5502-6.

Rezensent:

Hasko von Bassi

Zu Recht hat der damalige Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Nowak schon vor 20 Jahren festgestellt: »Die postmoderne Verabschiedung der Persönlichkeit findet entgegen den Ankündigungen mancher Kultursoziologen nicht statt.« (VuF 39, 1994, 45) In der Tat haben Biographien und Autobiographien in den letzten Jahren als Quelle historischer Forschung eher zunehmende Beachtung gefunden. (Nicht von ungefähr gibt es ja sogar ein universitäres Institut für Geschichte und Biographie). Trotz der Verdienste der Sozialgeschichtsschreibung bleibt eben richtig, dass es nicht gesellschaft­liche Strukturen, sondern menschliche Individuen sind, die Ge­schichte gestalten und erleiden.
Der frühere Pastor der Kieler Luther-Kirchengemeinde Johannes Rempel (1909–1990) hat Ende der 80er Jahre seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben. Der emeritierte Rechtshistoriker und frühere Rektor der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Hans Hattenhauer, dem R. sein Manuskript anvertraute, hat für dessen Aufbewahrung an der Kieler Theologischen Fakultät und für die nunmehrige Publikation dieser wertvollen Autobiographie Sorge getragen. Hans-Joachim Ramm, der über die Jahre hin mit einer Vielzahl von Arbeiten zur schleswig-holsteinischen Kirchengeschichte hervorgetreten ist, hat den Band sorgfältig ediert.
R.s Leben ist geprägt von den Irrungen und Wirrungen des »kurzen« 20. Jh.s (Eric Hobsbawm), jenes Jahrhunderts der Katastrophen:
Er wird 1909 als Kind deutschstämmiger mennonitischer Bauern in Rodnitschnoje am Ural geboren, wo er Kindheit und Jugend verbringt. 1929 im Zuge des stalinistischen Terrors verhaftet und 1930 nach Archangelsk verbannt, gelingt ihm eine abenteuerliche Flucht über Norwegen und England nach Deutschland. Sein Bildungsweg führt ihn über die evangelikale Bibelschule im schweizerischen Chrischona – in dieser Zeit veröffentlicht er sein später in elf Auflagen verbreitetes Buch »Der Sowjethölle entronnen« – zum Studium der evangelischen Theologie in Tübingen, das in Ermangelung der Hochschulreife unterbrochen werden muss. Nachdem R. in Berlin am Institut für Studierende Ausländer 1933 das Abitur erworben hat, setzt er in der Hauptstadt sein Theologiestudium fort, allerdings erweitert um die Studienfächer Philosophie und Geschichte. 1938 schließt er seine Studien zunächst ab mit einer Promotion (»Deutsche Bauernleistung am Schwarzen Meer. Bevölkerung und Wirtschaft 1825«) beim deutsch-österreichischen Ost europahistoriker (und NSDAP-Mitglied) Hans Uebersberger. Gleichfalls 1938 erhält R. die deutsche Staatsbürgerschaft.
Nach kurzer Tätigkeit im Verein für das Deutschtum im Ausland kann er mittels eines Stipendiums am Institut zur Erforschung des Deutschtums weiter wissenschaftlich arbeiten. 1940 zur Wehrmacht eingezogen und in Frankreich eingesetzt, wird er dann ab Juli 1941 Referent im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete. Ab Februar 1943 bis zum Zusammenbruch 1945 steht R. wieder im Feld, zunächst an der Ostfront, dann in Ungarn und der Tschechoslowakei. Das unmittelbare Kriegsende (mit vielen surrealen Szenen) erlebt er zwischen dem sowjetischen und dem amerikanischen Besatzungsgebiet in den Wäldern Thüringens und Bayerns, wo er sich mit Kameraden verborgen hält. Der Kriegsgefangenschaft entgeht er.
Frau und Kind findet er in Ostfriesland wieder. Ab April 1946 ist er Pfarrgehilfe in Geesthacht-Düneburg und setzt dann ab Sommersemester 1947 sein Theologiestudium in Hamburg (Kirchliches Vorlesungswerk) und Kiel fort. Nach Vikariat in Kiel, Besuch des Predigerseminars in Preetz und Zweitem Theologischem Examen wird er 1950 Hilfsgeistlicher an St. Nikolai in Kiel, später dann dort Pastor und schließlich von 1955 bis 1974 Pastor der Kieler Luthergemeinde.
Faszinierend an R.s Lebensbeschreibung ist die große Vielfalt der Horizonte, die dem Leser eröffnet werden. Da gibt es hochinteressante volkskundliche Darstellungen zum Alltagsleben der deutschen Bauern am Ural im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts sowie ausführliche agrargeschichtliche Überlegungen; wir finden militär- und kriegsgeschichtliche Exkurse (weitgehend ohne Schilderung der persönlichen Empfindungen und Ängste) oder kleine historische Abrisse wie zum Volksstamm der Kosaken (322–325) und biographische Skizzen zu Persönlichkeiten, denen auf R.s Lebensweg eine besondere Rolle zukam, wie Heinrich Graf v. Krockow, Siegfried Graf Schulenburg, Andreas Gayk und Hans Asmussen.
So vielfältig, informativ und in Teilen geradezu fesselnd die Darstellungen R.s auch sind, in theologischer Hinsicht bleibt manches eigenartig unterbelichtet. So vermisst man ein Wort dazu, wie ein Mensch, der von der mennonitischen Tradition intensiv geprägt war – immerhin war der Vater mennonitischer Prediger –, sich theologisch dem Luthertum angenähert hat, was er im Zuge dieser Konversion aufgegeben und was er gewonnen hat. Thematisiert wird eigentlich immer nur die Frage des ehren- oder des hauptamtlichen Dienstes an der Gemeinde (71: »Ich konnte mir als junger Mensch den Dienst der Verkündigung und Seelsorge nicht anders denn als freiwillige und unbezahlte Dienstleistung vorstellen.«; ähnlich 211). Auch zu den ekklesiologischen und homiletischen Aspekten des doppelten Dienstes, den R. in der Landeskirche und bei den mennonitischen Gemeinden im Norden Schleswig-Holsteins in den 50er Jahren parallel verrichtete (457.486), findet sich eigentlich gar nichts. Ein merkwürdiger Befund. Auch zur theologischen Frage des Kriegsdienstes äußert R. sich nicht. Das Mennonitentum war traditionell pazifistisch orientiert. »Die Mennoniten haben als erste Kirche der Welt die Verweigerung des Dienstes mit der Waffe im Frieden und die Verweigerung der Teilnahme am Krieg in die religiöse, politische und gewissensmäßige Arena der Welt gebracht«, schreibt R. selbst (41.42). Auch wenn die deutschen Mennoniten es ihren Mitgliedern seit 1934 freistellten, den Dienst an der Waffe zu leisten, so würde man von einem Theologen doch ein, zwei Bemerkungen zum Thema erwarten und sei es nur die Feststellung, dass der Waffendienst aus diesem oder jenem Grunde theologisch kein Problem darstellt.
Ratlos macht den Leser, dass R. in seiner Autobiographie die Tatsache seiner NSDAP-Mitgliedschaft unterschlägt (s. Ramm in seiner Einführung, 17). Dabei kann es keinem Zweifel unterliegen, dass sie ihm bewusst gewesen ist, denn er gibt sie in seinem Entnazifizierungsfragebogen (wenn auch irrtümlich mit falscher Jahresnennung) an. Ebenso wenig kann es einem Zweifel unterliegen, dass R. sich von der Nazi-Ideologie spätestens in den Wirren des Untergangs 1945 bleibend gelöst hat. Die rückblickende Schilderung, die R. von seinem Erleben eines öffentlichen Auftritts Hitlers gibt, ist kritisch reflektierend und geistreich: »Hitler erschuf vor den Augen und Ohren seiner Hörer Luftschlösser mit solcher kühnen und rationalen Überzeugungskraft, dass […] Industrielle witterten, diese Luftschlösser erwerben und Arbeiter hofften, darin wohnen zu können.« (242) R. analysiert angesichts der irrsinnigen Lebensraumkonzeption Hitlers zutreffend: »Hier, am Anfang der Kanzlerschaft Hitlers, hätte die Oberste Wehrmachtsführung Hitler Paroli bieten müssen und können.« (287) Und R. legt auch dar, dass er von den deutschen Verbrechen an der Zivilbevölkerung und den Kriegsgefangenen im Osten schon 1941 erfuhr (301.303).
So kann man hinsichtlich seiner Parteimitgliedschaft nur Mutmaßungen anstellen. Sicher war R. als Auslandsdeutscher, und zumal als einer, der den stalinistischen Verfolgungen ausgesetzt war, prädisponiert, Sympathie für eine Bewegung zu entwickeln, die eine betont anti-bolschewistische Rhetorik pflegte und für sich reklamierte, dem Deutschtum wieder Ansehen und Macht in der Welt zu verschaffen. R.s schließlicher Parteieintritt zum 1.1.42 dürfte, so wird man annehmen können, mit seiner Tätigkeit in Alfred Rosenbergs Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete zusammenhängen. R. arbeitete hier in der Abteilung von Georg Leibbrandt, einem der Russlandexperten der NSDAP und Teilnehmer an der verbrecherischen Wannseekonferenz. In diesem Kontext wird es für R. kaum möglich gewesen sein, die Parteimitgliedschaft zu vermeiden. Es wäre ein Dienst an den Nachgeborenen gewesen, hierzu ein Wort zu sagen. Dass R. (wie so viele andere) uns diesen Dienst versagt hat, macht seine Autobiographie in dieser Hinsicht zu einem typischen zeitgeschichtlichen Dokument. – Dessen ungeachtet: eine wertvolle Quelle für weitere Forschungen zum so unglücklichen 20. Jh.
Erratum: Auf S. 471 spricht R. vom »Abgeordneten der Nordschleswigpartei«; richtig ist »Südschleswigpartei«.