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Ausgabe: | März/2014 |
Spalte: | 313–314 |
Kategorie: | Religionswissenschaft |
Autor/Hrsg.: | Hafez, Kai |
Titel/Untertitel: | Freiheit, Gleichheit und Intoleranz. Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas. |
Verlag: | Bielefeld: transcript Verlag 2013. 376 S. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-8376-2292-8. |
Rezensent: | André Ritter |
Spätestens seit den New Yorker Terroranschlägen 2001 haben auch bei uns Islamfeindlichkeit und Islamophobie zugenommen. Doch der Umgang mit dem Islam und mit den unter uns lebenden Muslimen stellt eine fundamentale Bewährungsprobe für die liberale Verfasstheit unserer westlichen Gesellschaften dar. Der Erfurter Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft Kai Hafez nimmt die erste umfassende Bestandsaufnahme der Gleichstellung, Integration und Anerkennung des Islams in Deutschland und Europa vor. Sein differenzierter Blick zeigt: Während sich die politischen Systeme langsam auf die Anwesenheit von Muslimen einstellen, bleibt die »liberale Gesellschaft« oft weit hinter ihren Ansprüchen zurück. Die »Sarrazin-Debatte« sowie rassistisch motivierte Morde sind nur die Spitze einer tiefer liegenden Unfähigkeit vieler Europäer, die Globalisierung in ihre Lebenswelt zu integrieren. Um jedoch die Demokratie zu stützen, bedarf es nicht weniger als einer Neuerfindung der »liberalen Gesellschaft«. Nicht nur Politik und Bürger, sondern auch die Institutionen der Medien, Wissenschaft, Schule und Kirchen müssen sich rundum erneuern.
Laut Serdar Günes (Deutschlandradio Kultur) ist zunächst bemerkenswert, dass H. in seinem 376 Seiten umfassenden leidenschaftlichen Plädoyer nicht den Muslimen, sondern den christlich geprägten demokratischen Gesellschaften Intoleranz vorwirft und von ihnen deshalb erwartet, dass sie sich auf ihre liberalen Werte besinnen und Konflikte mit dem Islam in einem offenen Dialog lösen. Themen wie Migration, Religion und vor allem Islam enthalten politischen Zündstoff. »Exekutive Politik wird so lange anfällig für die Versuchungen der Diskriminierung einer Minderheit bleiben, wie auf der Ebene der Parteipolitik und der Ideologien noch kein richtungsübergreifender Konsens der politischen Kultur für die gleichberechtigte rechtliche, politische und gesellschaftliche Anerkennung der Muslime erzielt worden ist.« (71)
So prüft H., von Hause aus Politologe und zugleich Historiker und Islamwissenschaftler, die Rolle des Islam im westlichen Denken über mehrere Kapitel hinweg, und dabei konfrontiert er die Ideale der Liberalität, der Demokratie und des Rechtsstaates mit der Verfassungswirklichkeit in den Ländern Europas, zeigt Widersprüche und Ambivalenzen im Verhalten gegenüber dem Islam auf. Es liege aber mitnichten an den Muslimen allein, wenn eine nicht selten hysterische islamfeindliche Abwehrhaltung in den europäischen Gesellschaften entstanden sei. »Wenn eine Mehrheit nicht an die Verfassungstreue einer Minderheit glaubt, ihr jegliche soziale Integrationsbereitschaft und kulturelle Passfähigkeit abspricht, und wenn sich die Minderheit in hohem Masse diskriminiert fühlt, dann leben wir in einer instabilen Angstgesellschaft. Feindbilder haben heute in Europa enorme Konjunktur, sie reichen tief in die bürgerliche Gesellschaft.« (297) Denn »die wirk lichen Probleme der gesellschaftlichen Integration [...] werden nicht durch die Religion des Islam oder durch vergleichsweise hohe Religiosität der Muslime verursacht, sondern sind ein Ergebnis von mangelndem Sozialkapital (Sozialisation, Geld, Bildung usw.) der Einwanderer einerseits und mangelnder Investitions- und Aufnahmebereitschaft der Mehrheitsgesellschaft andererseits« (185).
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der aktuellen Ermittlungen rechtsextremistischer Gewalttaten analysiert H. recht nüchtern, aus welchen Gründen der Islam zwar schon lange in Europa anwesend ist, jedoch immer noch als eine Religion angesehen wird, »die nicht dazugehört«. Von der demokratischen Gesellschaft erwartet er, dass sie sich auf ihre liberalen Werte besinnt und lernt, echte oder vermeintliche religiöse Konflikte mit dem Islam durch einen offenen Dialog zu lösen. Kompakte Informationen und der Quellenreichtum machen das Buch zu einer aufklärerischen Lektüre, die analytischen Tiefgang und Leidenschaft bietet. Muslime, so H., müssten nicht Fremdkörper bleiben, sondern könnten Avantgarde einer liberalen, demokratischen Gesellschaft werden. »Für die Muslime, gleich ob sie religiös, hochreligiös oder atheistisch orientiert sind, stellt sich die Frage, wie sie mit der gegenwärtigen Lage umgehen sollen. Welchen Weg sollen sie wählen: Anpassung, Abschottung oder sollen sie für politische, gesellschaftliche und kulturelle Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft werben? Assimilation und Segregation, das lehrt die Geschichte, schützen religiöse Minderheiten nicht vor Diskriminierung und gewaltsamen Übergriffen in Krisenzeiten, sie sind also keine probaten Strategien für das 21. Jahrhundert.« (11) Wie am Ende auch immer, durch gelingende Formen gesellschaftlicher Partizipation könnten Muslime zur Avantgarde einer neuen globalen Emanzipationsbewegung werden.
Das aber setzt notwendig voraus, dass die Anerkennung von religiösen Minderheiten zum unverzichtbaren Bestandteil einer weitergehenden politischen und sozialen Emanzipation deutscher und europäischer Anerkennungs- und Partizipationskultur wird. »Defizite der politischen und ökonomischen Systeme wie auch Werteversagen der Gesellschaft können nie allein durch Macht- und Wirtschaftsreformen oder erzieherische Appelle beseitigt werden. Politisches, sozioökonomisches und kulturelles Versagen hängt immer auch mit kommunikativem Versagen zusammen, so dass emanzipatorische Fortschritte an allen Fronten der liberalen Demokratie und der liberalen Gesellschaft nur im Kontext dialogischer Lösungen denkbar sind.« (315) Doch sind wir in Deutschland und Europa dazu tatsächlich bereit? Diese Frage zieht sich gleichsam wie ein roter Faden durch alle Kapitel dieses lesenswerten Buches hindurch und macht von Seite zu Seite einmal mehr deutlich, dass es dringend notwendig um die Anerkennung der Möglichkeit von Differenz und Vielfalt in Staat und Gesellschaft geht.