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Ausgabe:

Februar/2014

Spalte:

222–224

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Nahmer, Dieter von der

Titel/Untertitel:

Der Heilige und sein Tod. Sterben im Mittelalter.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012. 320 S. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-534-25640-2.

Rezensent:

Hubertus Lutterbach

Der Autor des anzuzeigenden Buches, Dieter von der Nahmer, hat viele Jahre lang und noch weit über seine Emeritierung hinaus Mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg gelehrt. In seiner Forschung geht es ihm erstrangig um die Heiligen und die Hagiographie des Mittelalters. Diesem thematischen Schwerpunkt bleibt er auch mit »Der Heilige und sein Tod« treu.

Zu den Eigenarten seines Buches gehört es, dass das Inhaltsverzeichnis ohne Gliederungsziffern oder -buchstaben auskommt. So folgt auf eine »Einleitung« eine Rubrik zu »Gestalten des Alten Testaments«, unter der knappestens auf die Patriarchen, überdies auf Mose, Josua und David sowie auf einige Propheten eingegangen wird. Unter dem Thema »Christus« geht es um die Rezeption der Passion Christi aus den Perspektiven des Eusebius von Caesarea und anderer Kirchenväter (Ambrosius, Augustinus, Leo d. Große etc.). Die folgende Rubrik »Märtyrer« berücksichtigt Stephanus, Polykarp, die Märtyrer von Lyon, Felicitas, Cyprian sowie – etwas disparat wirkend – eine »Auseinandersetzung mit heidnischen Texten«. Die Rubrik »Heilige (Confessores) bis zum Ende des 6. Jahrhunderts« bezieht sich auf Antonius d. Gr., Euthymios d. Gr., Mar tin von Tours, Honoratus von Lérins, Melania d. J., Ambrosius, Augustinus, Germanus von Auxerre, Severin von Noricum, die Juraväter und Benedikt von Nursia. Unter der Rubrik »Heilige des frühen und hohen Mittelalters« folgen Leodegar von Autun, Adalhard von Corbie, Ansgar, Ulrich von Augsburg, Bernward von Hildesheim und Franz von Assisi. Abgerundet wird das Werk durch eine »Zusammenfassung«, an die sich noch ein »Epilog« anschließt.

Die Hinweise des Vf.s zur Fragestellung bleiben vage. Die klars­te Zielformulierung bietet er in seinem halbseitigen »Vorwort«: Das Buch »will den Blick darauf lenken, wie Einzelne, die man wohl als Personen besonderen Ranges ansehen darf, die auch damals so angesehen wurden, sich in ihrem Leben dem eigenen Sterben, dem eigenen Tod gestellt und ihr Leben darauf ausgerichtet haben, dass es über den Tod hinaus Bestand haben sollte« (7). Eigens sei herausgestellt, dass der »Epilog« der (auch sprachlich schwer verständlichen) Frage gilt, »ob wir mit einem zu engen Begriff des Individuums die Menschen des frühen Mittelalters, auch die be­deutends­ten, zu Unrecht als gleichsam vorindividuell, aus einem Allgemeinen sich nicht erhebend, klassifiziert haben« (7). – Als »wichtigstes Quellenmaterial« für seine Darstellung bezeichnet der Vf. die Heiligenviten (17). Methodische Hinweise zur Gesamtkonzeption (Auswahl der Heiligen etc.) fehlen in seiner Studie, was umso schwerer wiegt, da sich der große Rahmen auch anhand des auf knapp vier Seiten begrenzten und wenig spezifischen Forschungsüberblicks nicht klar erschließt (17–21).

Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten seien vier Aspekte kritisch hervorgehoben:

1. Der Untertitel des Buches (»Sterben im Mittelalter«) ist irreführend, denn erstens beginnt die Rubrik »Heilige des frühen und hohen Mittelalters« erst auf S. 129, so dass sich kaum die Hälfte der 240 Textseiten auf das Mittelalter bezieht. Zweitens stellt der Vf. keinen Heiligen aus spätmittelalterlicher Zeit vor. Schließlich sind alle berücksichtigten Persönlichkeiten männlich, ohne dass der Vf. dafür eine Begründung bietet. – Warum er die ausgewählten Ge­stalten des Alten Testaments ›direkt‹ diskutiert, Christus dagegen rezeptionsgeschichtlich anhand von Kirchenväterzeugnissen, bleibt ebenso unklar wie überhaupt die Bedeutung der altkirchlichen Le­benszeugnisse für sein Thema »Sterben im Mittelalter«.

2. Der Vf. grenzt sich zwar in scharfer Weise von Historikerkollegen ab, die ihren wissenschaftlichen Blick auf das Typische in der mittelalterlichen Hagiographie richten (»So gerne die Wissenschaft gerade Viten vorwirft, dass sie Gestalten ins Typische verfälschend reduzieren […]« [223, auch 274, Anm. 11]). Doch eine wissenschaftlich klare Antwort auf die Frage, wie mit der vitenspezifischen Spannung zwischen »typisch« und »individuell« umzugehen ist, bietet auch er nicht (17). Ob sich hier als Ausweg die Option nahegelegt hätte, die untersuchten Primärquellen als Zeugnisse für die Geschichte des geglaubten Gottes zu lesen? Unter einem derartigen Horizont lässt sich sowohl das »Typische« als auch das »Individuelle« integrieren.

3. Auffällig ist, dass der Vf. das Sterben der von ihm untersuchten Heiligen als Ausdruck des Gegensatzes zu modernem »Subjektivismus« bewertet, ohne dass er offenlegt, warum ihm dieser Kontrast so wichtig ist (»Eines ist allen Gestalten fern, von denen hier die Rede war: Keiner dieser Heiligen hielt es für richtig und würdig, die eigenen Wünsche auszuleben« [220]; »Von keinem der hier behandelten Heiligen lässt sich sagen, er habe einen eigenen Lebensentwurf zu entwickeln, zu verfolgen und durchzusetzen.« [221]; »Antonius setzte gegen das Gotteswort eben nicht das moderne ›Ich möchte jetzt aber‹, glaubte auch nicht, dass ein Gotteswort seiner kritischen Prüfung unterläge.« [237]).

4. Am schwersten unter allen kritischen Anfragen wiegt, dass der Vf. zwar theologisch argumentiert, hier allerdings gravierende Wissensdefizite zu erkennen gibt. So operiert er mit einem nirgends geklärten Begriff des Märtyrers. Weder erläutert er, worin die Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen dem Martyrium Jesu Christi und dem Martyrium späterer Christen liegen, noch differenziert er zwischen den blutigen und den unblutigen Märtyrern. Immerhin liegt doch der eschatologische ›Mehrwert‹ (anfänglich allein) des blutigen Martyriums darin, dass der Betroffene gemäß altkirchlicher und mittelalterlicher Theologie wie der Schächer der Kreuzigungsszene noch am Tag des irdischen Todes in das Paradies eingeht. Entsprechend dieser Vorstellung gilt der Sofortzugang als plausibel, weil man dem Märtyrer aufgrund seines Martyriumstodes ein als unübertreffbar angesehenes Maß an Sühne für sich und die anderen zuschreibt.

Den aufgezeigten Zusammenhang übersieht der Vf. sowohl bei der Darstellung der blutigen als auch der unblutigen Märtyrer. Deutlich wird das daran, dass er bei mehreren Heiligen die Wundererzählungen im unmittelbaren Anschluss an die hagiographische Darstellung des Todes ohne weitere Begründung übergeht (z. B. »Posthume Wunder lassen wir außer Acht.« [116, auch 120]). Diese Wunder aber werden allein deshalb im Sinne der Kultpropaganda hagiographisch beschrieben, weil man den Heiligen im Tod – märtyrergemäß – bereits bei Gott aufgenommen glaubte! Die göttliche suavitas (208), das Ableben im Mönchsgewand (232), die grundsätzliche Bedeutung der mittelalterlichen Klosterregeln (201), der Zorn bzw. die Rache Gottes (115. 133) oder die Stigmatisation (186) werden zwar genannt, aber für das »Sterben im Mittelalter« nicht oder nur unzureichend erklärt. Die radikale Trennung eines christlichen Asketen von seinem Elternhaus reichte nicht »bis in das 6. Jahrhundert zurück« (179), sondern veranschaulicht das Selbstverständnis des Zönobitentums seit seinen Anfängen im 4. Jh. Die immer wieder geäußerte (und beinahe luthergleich an­mutende) Sorge des Vf.s (196.215.219. 234 f. 256, Anm. 27) darüber, dass mittelalterliche Menschen (und heutige Historiker) einen Heiligen in der Mittlerposition Christi sahen (und sehen), ist unbegründet, denn angesichts der Deifizierung Christi schon im 5. Jh. war der mittelalterlichen Frömmigkeit der Unterschied zwischen Deus und Chris­tus in heutiger theologisch-dogmatischer Trennschärfe von untergeordneter Bedeutung oder sogar unverständlich.

In summa: »Die Wissenschaft und die Heiligen kommen nicht zusammen.« So bilanziert der Vf. das Elend der heutigen aufgeklärten Wissenschaft, die für die Religiosität des Mittelalters keinen Sinn zeigte (239). Man fragt sich, wen von seinen Fachkollegen der Vf. hier im Blick hat, zumal er an anderer Stelle auch religionsgeschichtliche Erklärungsansätze ablehnt (256, Anm. 27), die zwischen vor- und nachaufgeklärten Weltbildern unterscheiden und mit denen sich durchaus hilfreiche Zugänge zum mittelalterlichen Religionsleben eröffnen lassen. So wirkt die vorgelegte Monographie eher wie eine um Textgenauigkeit bemühte persönliche Meditation über Sterben und Vergänglichkeit anhand verschiedener Lebenszeugnisse aus altkirchlicher und mittelalterlicher Zeit. Diese Leistung verdient Respekt, lässt allerdings wissenschaftlich entscheidende Fragen zum »Sterben im Mittelalter« unbeantwortet.