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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

113–114

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fechtner, Kristian

Titel/Untertitel:

Späte Zeit der Volkskirche. Praktisch-theologische Erkundungen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 173 S. = Praktische Theologie heute, 101. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-17-020969-5.

Rezensent:

Hans-Martin Gutmann

Das Buch von Kristian Fechtner ist kein Abgesang an die vertraute Rede von der »Volkskirche« und es ist auch keine Kampfschrift zu ihrer Verteidigung. Im Angesicht des unbestreitbaren – und von F. nicht bestrittenen – Plausibilitätsverlusts wird umsichtig und klug »erkundet« und argumentiert.
Die Motivation für diesen Zugang wird geltend gemacht, sie wird begründet und in den hier zusam­mengetragenen zwölf Texten aus zwei Jahrzehnten zu einer guten Gestalt gebracht, nämlich: Die an der Kirche beteiligten Menschen – in welcher Nähe oder Ferne auch immer sie sich befinden, gleich also, ob sie aktiv an den Gottesdiensten und dem kirchlichem Vereinsleben teilnehmen oder der Kirche höchstens gelegentliche Besuche abstatten oder auch nur distanziertes Wohlwollen zeigen – sollen als selbsttätige Subjekte ihres Beteiligungsverhaltens geachtet und wertgeschätzt werden.
Praktisch-theologische »Erkundung« in diesem Sinne ist kein fest umrissener methodischer Kanon, sondern eher eine Haltung, in der F. seine Themen angeht: Ist Volkskirche ein zeitgemäßer Name für Kirche heute? Welche gesellschaftlichen Horizonte und theologiegeschichtlichen Bezüge sind namhaft zu machen? Was bedeutet die Rede von »Erwartungen« und »Bedürfnissen«, aber auch von »Nachfrage und Angebot« mit Blick auf kirchliche Arbeits- und Lebenszusammenhänge? Welche Gestalt gewinnt die Kirche in verschiedenen Kontexten – als »Gemeinde«, als Kirche in der Großstadt oder im ländlichen Raum? Das Stichwort »kirchliche Kultur« wird an zwei Themenkreisen diskutiert: a) Trauerkultur und kirchliche Bestattung; b) »Glockenläuten als öffentliche Klangkultur«. Und es wird wahrgenommen und bedacht, dass religiöse Praxis im spätmodernen Christentum über kirchliche Institutionen hinaus lebendig ist.
Die theoretischen Konzepte, die im gegenwärtigen praktisch-theologischen Diskurs zum Verständnis der Lage der Kirche heute im Gespräch sind, werden in diesem Buch durchweg thematisiert, beispielsweise: Individualisierung, Säkularisierung und Pluralisierung; Kirche in der Marktgesellschaft; Kirche als Institution und als Organisation. Zudem werden theologisch-theoretische Ge­währsleute ebenso namhaft gemacht – vor allem Friedrich Schleiermacher, Ernst Troeltsch und Henning Luther – wie sozialwissenschaftliche oder philosophische – beispielsweise Jürgen Habermas oder (als traditionelle Bezugsgröße) Ferdinand Toennies. Und auch die aktuellen praktisch-theologischen Gesprächspartner kommen zahlreich und umfassend zu Wort. Bemerkenswert ist nicht nur diese Vielfalt an Themen und Bezügen, sondern die Weise, wie F. mit ihnen umgeht.
Kennzeichnend ist nämlich eine smarte Verweigerung gegen­-über eingespielten Sprachspielen und Denkmustern. Ein Beispiel: »Kirche in der Marktwirtschaft« wird als gegenwärtig machtvolle Wahrnehmung kirchlicher Arbeit vorgestellt und unaufgeregt kritisiert, im Kern aber umdefiniert: »Nachfrage« meint für F. nicht zuerst, dass die kirchliche Arbeit sich marktkonform an Erwartungen und Bedürfnissen ihrer Mitglieder ausrichtet (und was dies meinen kann, wird umsichtig diskutiert), sondern: Die Kirche selbst soll »nachfragende« Kirche werden, soll erkunden und wertschätzend interpretieren, was Menschen heute wollen und brauchen. Und dies ist immer auch eine Haltung, die Selbsttätigkeit und Freiheit, Veränderungsfähigkeit und vor allem Bereitschaft zu Bildung als offene, subjektorientierte Prozesse bei den Menschen unterstützt, die ihrerseits die kirchliche Arbeit »nachfragen«.
Dieses Buch enthält eine Reihe von großenteils veröffentlichten Aufsätzen und ist deshalb nicht ohne Redundanzen. Diese sind aber leicht zu verschmerzen, weil F. seine Leser und Leserinnen um­fassend und kundig in elementare Probleme genauso wie in differenzierteste Aspekte der Volkskirche in der spätmodernen Gesellschaft einführt – auf eine zum Lesen ermunternde Weise. Wer sich über die Geschichte der Volkskirchen-Konzeption von Schlei­ermacher bis Wichern, Ernst Troeltsch bis Emil Sulze infor mieren will, kommt hier ebenso auf seine/ihre Kosten (nämlich wird über die Hintergründe eigener Positionalität belehrt) wie Zeitgenossen, die inhaltliche Unbestimmtheit, administrativ ge­regeltes Amtschristentum oder die problematische Verbindung mit »Volks«-Konzeptionen in der jüngeren deutschen Geschichte ablehnen – oder aber gerade die offene Volkskirche schätzen, weil dieses Mo­dell – im Gegenüber zu gegenwärtig weltweit anwachsenden fundamentalistischen Orientierungen nicht nur im Chris­tentum – den Versuch mit Leben füllt, Kirche aus der Perspektive der beteiligten Subjekte in den Blick zum nehmen. Dem Urteil F.s ist vorbehaltlos zuzustimmen: »Da es keinem Menschen zusteht, die Kirche und damit uns selbst freizusprechen, plädiere ich auf Bewährung.« (21)
Noch eine Schlussbemerkung: Am überraschendsten und er­tragreichsten war für mich die Lektüre eines bisher unveröffentlichten Aufsatzes zur Kirche im ländlichen Raum (116–129). Für einen Leser, der selbst im Dorf groß geworden ist, hier Vikariat und Pfarramt erlebt hat, wird die dörfliche Kultur in ihrer ganzen Ambivalenz und Gebrochenheit, aber auch in ihrem Charme und ihrer Herausforderung für die Arbeit der Kirche heute auf eine Weise vorgestellt, dass dieser Text in jede Vorbereitung eines Ge­meindepraktikums, in jedes homiletische Seminar und auf jeden Nachttisch eines Landpfarrers oder einer Landpfarrerin gehört (den Kollegen in der Stadt würde das Buch aber auch nicht schaden).