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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

70–72

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Westerholm, Stephen [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Blackwell Companion to Paul.

Verlag:

Chichester: Wiley-Blackwell 2011. 632 S. = Blackwell Companions to Religion. Geb. £ 120,00. ISBN 978-1-4051-8844-9.

Rezensent:

Oda Wischmeyer

Stephen Westerholm, Professor für Early Christianity an der McMas­ter Universität in Hamilton/Ontario, ist einer der bekannten ge­genwärtigen Paulus-Interpreten. Er hat sich besonders mit der Geschichte der Paulusrezeption und -interpretation bis zur new perspective on Paul und ihrer Kritik auseinandergesetzt. Sein Paulusband hat den Umfang (ca. 600 Seiten) und die buchtechnische Qualität, die die renommierten Blackwell-Companions auszeichnet. Das Ensemble von fast 40 Autorinnen und Autoren ist ganz überwiegend angelsächsisch (Ausnahmen: J.-N. Aletti, H. Räisänen, R. Riesner, G. Theißen) und umfasst aus diesem Bereich neben vielen anderen ausgewiesenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Namen wie J. M. G. Barclay, J. D. G. Dunn, B. Roberts Gaventa und N. T. Wright, die in der Paulusinterpretation eine be­sondere Rolle spielen.
Ein solcher Einführungsband hat viele Konkurrenten (vgl. nur das von J. D. G. Dunn herausgegebene Cambridge Companion to St Paul von 2003) und benötigt ein deutliches Profil und ein eigenes ›Anliegen‹. Stephen Westerholm hat nicht ein Lehrbuch für Studierende konzipiert, auch nicht ein neutestamentliches Paulushandbuch (vgl. das von F. W. Horn herausgegebene Paulus Handbuch, Tübingen 2013), sondern ein Werk, dass einem allgemeinen theologischen Zweck dient und von Theologen für Theo­logen geschrieben ist. Er formuliert sein Anliegen sehr klar im ersten Satz seiner kurzen Einführung: Paulus »gehöre« einerseits den Neutestamentlern (»students of the New Testament and early Christianity«, 1), an­-dererseits den Theologen (students of »Chris­tian theology«, 1), d. h. den Systematikern und Ethikern. Daher ist ein Brückenschlag zwischen den verschiedenen theologischen – im deutschen Sprachgebrauch gehören alt- und neutestamentliche Wissenschaft wie Kirchengeschichte zur »Theologie« – Disziplinen notwendig: »The Blackwell Companion to Paul is designed to ad­dress the interests of both and to facilitate their mutual conversation« (1). Die Brücke zwischen diesen beiden wissenschaftlichen ›Lagern‹ stellt seiner Meinung nach vor allem die Auslegungsgeschichte dar. Deshalb gilt: »A distinctive feature of the Blackwell Companion to Paul is the prominence given in Part II to Paul’s impact on […] his interpreters«, 3). Hinzu kommt die allgemeine Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, die in Teil III behandelt wird (vgl. das Programm der Encyclopedia of the Bible). Daraus ergibt sich der Aufbau des Werkes:
Teil I ist dem Thema »Paul and Christian Origins« gewidmet (7–297), Teil II den »Readers of Paul« (301–503), die letzten hundert Seiten dem »Legacy of Paul« (505–604). Vom Umfang her ergibt sich eine klare Zweiteilung: Während die ersten 300 Seiten des Companion Paulus selbst betreffen, gelten die zweiten 300 Seiten der Pau­lusrezeption bis zur Gegenwart. Das rezeptionsgeschichtlich kon­-zipierte Werk integriert damit tatsächlich die theologischen Disziplinen in dem Bemühen, den Apostel (3) des christlichen Anfangs als eine der zentralen Gestalten und Theologen aller christlichen Kirchen, Denominationen und theologischen Lehrer bis zur Ge-genwart zu verstehen. Hier kommen alt- und neutestamentliche Wissenschaft und Judaistik, Kirchengeschichte und christliche Kulturgeschichte mit Systematik und Ethik zusammen. Die Rezeptionsgeschichte hat damit die Funktion einer theologischen Hermeneutik übernommen. Wenn etwas in diesem umfassenden Panorama fehlt, wäre es eine eigene Einführung in die reiche Pre­digtliteratur zu den Paulusbriefen. Westerholm weist in der Introduction selbst darauf hin, dass man sich gegenwärtig in vielen Gegenden der Welt »never more than a few miles from churches« (2) befindet, an denen ständig über Texte des Paulus gepredigt wird.
Eine Rezension kann nicht Details des gewichtigen Bandes dis­kutieren, sondern nur auf die Bedeutung, die Stärken und die – möglichen – Grenzen des Konzepts hinweisen. Zunächst ist aus der Sicht der neutestamentlichen Wissenschaft doch auffallend, wie zu­rückhaltend die Autoren des ersten Teils des Companion mit wichtigen kontroversen Fragen der Paulusexegese wie z. B. der An­zahl der echten Paulusbriefe umgehen. Eine rezeptionsgeschicht­liche General-Perspektive wird der Frage nach dem ›ur­sprüng­lichen‹ oder ›echten‹ Paulus selbstverständlich nicht zu viel Ge­wicht beimessen können; damit tritt aber gleichzeitig die kritische Frage nach den Quellen in den Hintergrund. Hier entsteht ein Problem: Welche Bedeutung wollen die Vertreter der neutestamentlichen Wissenschaft – hier auch der Herausgeber – ihren eigenen exegetischen Untersuchungen und Debatten beimessen? Sind sie letzten Endes »theologisch« nicht relevant? Andererseits ist für den ersten Teil (»Paul and Christian Origins«) ja gerade ein historisch akzentuierter Zugang gewählt worden: Nicht die Briefe stehen im Vordergrund der Darstellung, sondern »Paul and the Macedonian Believers« (30) usw., so dass die Briefe jeweils als Dokumente der geographisch-gemeindlichen Tätigkeiten und Beziehungen des Paulus verstanden werden. Das entspricht einer gewissen Tendenz der gegenwärtigen neutestamentlichen Wissenschaft, eher die ge­meindlichen und sozio-kulturellen Kontexte der Paulusbriefe als ihr »theologisches« Profil zu erarbeiten, verpflichtet dann aber auch zu kritischer Genauigkeit bei der Frage nach dem Verfasser der Briefe.
Die theologischen Inhalte der Briefe werden in thematischen Kapiteln erschlossen: Evangelium (J. D. G. Dunn gibt eine kurze magistrale Einführung in die Grundkoordinaten der paulinischen Botschaft), Schrift (J. Ross Wagner gibt eine bemerkenswert reichhaltige Einführung in das Thema), Christologie (S. Gathercole), »Judaism and the Jewish People« (J. M. G. Barclay), Gesetz (A. J. Hultgren). Aber weshalb fehlen eigene Beiträge zu Glaube, Liebe, Rechtfertigung (s. aber bei Dunn), d. h. jenen Akzenten, die Paulus selbst setzt? Hier wäre eine Einführung des Herausgebers, die die Auswahlprinzipien erklärt, hilfreich gewesen.
Es folgen vier Beiträge zu wichtigen Fragestellungen der jüngs­ten Paulusforschung: Rhetorik (J.-N. Aletti), Sozialgeschichte der paulinischen Gemeinden (G. Theißen), Frauen (M. Y. MacDonald) und »Empire« (N. T. Wright führt in moderater Weise [296] in das Thema ein, das im angelsächsischen Kontext gegenwärtig be­son­ders diskutiert wird). Der informative Beitrag von D. Jongkind »The Text of the Pauline Corpus« hätte aus meiner Sicht besser Teil I eröffnet, statt zwischen den theologischen und aktuellen Beiträgen platziert zu sein.
Der zweite Teil stellt unter der Überschrift »Readers of Paul« 13 Beiträge zusammen, die Paulusinterpretationen von Markion bis zu »African Readings of Paul« präsentieren. Für deutsche Leserinnen und Leser ist der Wesley-Beitrag besonders empfehlenswert, da die Brüder Wesley in der deutschsprachigen Theologiegeschichte keinen vorderen Platz einnehmen. Aus neutestamentlicher Sicht ist der Luther-Beitrag von M. L. Mattox wichtig (375–390). Mattox vermeidet die Einseitigkeit bei der Rekonstruktion des lutherischen Paulusverständnisses, das der new perspective teilweise als Negativfolie diente. Angesichts des profunden und sehr engagiert geschriebenen Beitrags zu Barth (R. E. Burnett) befremdet umso mehr das Fehlen eines Beitrags zu Bultmann. Falls Bultmann einfach als ein Exeget unter jene vielen Exegeten und Exegetinnen eingereiht wird, die Westerholm wenig schmeichelhaft als jene »associate professor[s] at a local university« klassifiziert, die immer neue Vorschläge zur Rekonstruktion dessen vorlegen, »what the apostle really thought« (2 – Frage: was ist daran falsch?), wäre Protest angebracht. Wie auch immer: Nicht nur aus der Sicht der neutestamentlichen Wissenschaft, sondern aus allgemein-theologischer Perspektive ist Bultmann zweifellos einer der großen Paulusinterpreten, dem man widersprechen, den man aber nicht übergehen kann. Und die Barth-Bultmann-Kontroverse über den Römerbrief gehört zu den großen und bewegenden theologischen Debatten des 20. Jh.s.
Teil III verbindet Beiträge zu »Art« (R. M. Jensen, 507–530) und »Literature« (D. L. Jeffrey, 531–545) mit vier theologisch-systema­tischen Beiträgen – eine Zusammenstellung, die nicht unmittelbar einleuchtet. Der Artikel zu Paulus in den Bildenden Künsten er­schließt das Thema von der Ikonographie her (vgl. das »Lexikon der christlichen Ikonographie« LCI) – ein theologisch ergiebiger Beitrag (es fehlt das Vier-Apostelbild von Dürer, das die »Theologen« Johannes und Paulus den beiden Aposteln bzw. Evangelisten Petrus und Markus programmatisch vorordnet). Eine Fundgrube für die englischsprachige Literatur ist der Beitrag von D. L. Jeffrey, der glück­licherweise auch auf Mendelssohns »Paulus« Bezug nimmt. Man hätte sich ein entsprechendes Kapitel über Musik gewünscht, z. B. die Vertonung zentraler Paulustexte durch J. S. Bach. Vielleicht ließe sich das in einer 2. Auflage nachholen.
Wie anspruchsvoll das Programm des Companion ist, zeigt ein Beitrag wie der von G. Meilaender zur Ethik (576–588). Unter der Last der ethischen Fragestellungen seit der antiken Philosophie kommt die eigene Ethik des Paulus kaum zum Zug: Wie integriert man 1. Korinther 13 in die Fragestellungen teleologischer, deontologischer und »Agent-centered« Ethik? Nicht überraschend gelingt dem Vf. aber mit dem Rekurs auf Kierkegaard (586 f.) doch der Anschluss an Paulus.
Fazit: Es handelt sich um einen anspruchsvollen und notwendigen Band, der allen Theologinnen und Theologen zur – kritischen– Lektüre empfohlen werden kann.