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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

64–66

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lips, Hermann von

Titel/Untertitel:

»… und nicht die Perlen vor die Säue«. Gesammelte Studien zum Neuen Testament. Hrsg. v. Ch. Senkel.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 591 S. = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 43. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-374-03081-1.

Rezensent:

Martin Karrer

Hermann von Lips, Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg von 1994–2007, setzte wissenschaftliche Schwerpunkte bei den Pastoralbriefen (seit der Dissertation 1974), in der Erforschung von Weisheitstraditionen (seit der Habilitation 1989) und der Kanongeschichte (vgl. seine Gesamtdarstellung 2004). Um diese Schwerpunkte lagerten sich weitere Forschungen zur Jesusüberlieferung und zu den Evangelien, zu Paulus und den Paulusschülern, zur Schriftrezeption und Hermeneutik und – nicht zuletzt wegen seiner Mitarbeit an Septuaginta Deutsch – zur jüdischen Weisheitsliteratur.
Der Band sammelt die Beiträge zu diesen Themen und nimmt außerdem Vorträge und Predigthilfen des Jubilars auf, so dass ein schönes Gesamtbild seines Wirkens und Denkens entsteht. Stellen wir exemplarisch Akzente aus den Hauptbereichen vor:
1. Jesusforschung: Der Titel des Sammelbandes verweist auf den bekanntesten Aufsatz des Jubilars, seine Deutung von Mt 7,6. Dieses Bildwort spielt demnach auf den antiken Brauch an, Schweine reich zu füttern, Straßenkötern aber nichts hinzuwerfen (»Schweine füttert man, Hunde nicht […]«; erstveröffentlicht 1988, 14–34). Jesus – dem das Wort wegen seiner Fremdheit zugesprochen werden mag – prägt eine Sentenz in der Tradition der Tiersprichworte (typisch für seine Provokationen ohne Scheu, selbst Schweine modellhaft zu erwähnen) und akzentuiert es zum Gerichtswort: Wer gegen richtiges Verhalten verstößt (Straßenhunden heiliges, bestes Fleisch gibt etc.), löst schlimme Folgen aus, d. h. muss mit dem Gericht rechnen.
2. Weisheit und Christologie: Weisheitliche Kategorien halfen im 1. Jh. wesentlich, Aspekte der Christologie zu entfalten (von der Präexistenz bis zur Revelationsformel). Doch entstand keine konsequente Entwicklung von Weisheits-(Sophia-)Christologie. Vielmehr sind genauso Brüche und Verschiebungen (etwa die zum Logos im Joh) zu beachten (Christus als Sophia, 35–55).
3. Vorneutestamentliche Weisheitsliteratur: Die griechisch-jüdische Weisheitsliteratur berührt gewichtig die griechische Tu­gendlehre und reflektiert doch anders als die griechische Philosophie nicht die Tugend an sich (jüdische Weisheit und griechische Tugendlehre, 97–117). Die Möglichkeit, dass griechische Philosophie bekannt war, ist nicht zu unterschätzen (so in den Beobachtungen zu LXX Prov, 118–132, einer vorzüglichen Einführung in die Eigenheiten dieses Buches).
4. Von Paulus zu den Pastoralbriefen: In Wittenberg wirkte einst Melanchthon neben Luther, in Halle Paul Anton neben Francke. Melanchthon verdanken wir wichtige rhetorische Analysen der Paulusbriefe (Melanchthon als Paulus-Exeget, 275–298), und Anton die Bezeichnungen »Pastoralia«/»Pastoral-Briefe« (Von den »Pastoralbriefen« zum »Corpus Pastorale«, 230–249). Der Jubilar würdigt diesen Genius loci und unternimmt selbst weitere Analysen zu rhetorischen Topoi bei Paulus und in der frühchristlichen Tradition (z. B. zu den Zitaten bei Paulus und ihrer rhetorischen Funktion und zu den Peristasenkatologen; 186–210.250–274).
Unter diesen Analysen ragt die Untersuchung zu den sogenannten »Haustafeln« hervor. Der Vf. schloss mit ihr eine Phase der Debatte über den form- und kulturgeschichtlichen Ort der Haustafeln ab, die ab Mitte der 1970er Jahre heftig geführt wurde: In dieser Zeit neigte sich die Waage dazu, die Haustafeln als eine eigene Textgruppe vor dem Hintergrund der antiken Oikonomik zu betrachten. Der Vf. dagegen stellte nochmals den (früher vorge­zogenen) Kontext in der stoischen Pflichtenethik heraus und verstand das Haus als einen Topos, dessen Thematisierung in diesem Rahmen dann auf die Tradition der Ökonomik zurückgriff. Wenn die Texte so gelesen werden, entstand im frühen Christentum keine feste Form, und eine Gattungsgeschichte erübrigt sich. Vielmehr kam es zu unterschiedlichen Gestaltungen des Topos in der postbaptismalen Paränese von Kol/Eph und 1Petr/Tit (Die Haustafel als »Topos« im Rahmen der urchristlichen Paränese, 211–229). Seither setzt sich die aus der Rhetorik stammende Bezeichnung »Topos« in der Forschungsdebatte allmählich durch, während die inhaltlichen Schwerpunkte differieren (vgl. z. B. M. Y. MacDonald, Beyond Identification of the Topos of Household Management, NTS 57, 2011, 65–90).
5. Timotheus und Titus: Der Vf. hält am Corpus der Pastoralbriefe fest, während andere Tendenzen der Forschung derzeit 1Tim, 2Tim und Tit stark unterscheiden; er bringt jedoch bemerkenswert eine sonst vernachlässigte Frage ins Spiel: Mussten in den Texten nicht die Biographien und das Sterben der Leitpersonen berücksichtigt werden (die Pseudepigraphie setzt den Tod des Ti­motheus und Titus voraus)? Timotheus starb den Märtyrerakten nach 97/98 durch einen Gewaltausbruch bei einem Fest in Ephesus, während Titus bis ans Lebensende unbehelligt blieb. Der Vf. hält eine historische Reminiszenz in den Timotheusakten für möglich und sieht die Leidensthematik in 1/2Tim als einen Reflex des frühchristlichen Wissens (im Tit fehlt sie). Als Datierung der Past ergibt sich +/- 120 (Die Timotheus- und Titusakten und die Leidensthematik in den Past, 310–329; vgl. die Monographie Timotheus und Titus. Unterwegs für Paulus, Biblische Gestalten 19, Leipzig 2008).
Der vorliegende Text der Timotheusakten ist jung. Doch das erwähnte Fest der Katagogien (H. Usener [Hrsg.], Acta S. Timothei, Bonn 1877, 11 ff.) ist als Dionysosfest identifizierbar, und die zum Tod führende Misshandlung des Timotheus lässt sich (nun über den Vf. hinaus) in den Kontext der antiken Rauschfeste einordnen. Dort kam es gelegentlich zu Todesopfern, wenn sich jemand – wie von Timotheus erzählt wird – dem orgiastischen Zug in den Weg stellte (vgl. Pentheus in den Bakchen des Euripides). Das Timotheusmartyrium müsste deshalb nicht als Zeugnis einer allgemeinen Christenverfolgung gelesen werden. Es ist als Einzelgeschehen denkbar. Der historische Kern ist also mit dem Vf. vorstellbar. Das hätte erhebliche Bedeutung für die Geschichte des ersten Christentums in Ephesus insgesamt (nun wieder über den Vf. hinaus). Auch die derzeit breit diskutierte Datierung der Apk wäre betroffen: Das Timotheusmartyrium ist in Apk 2,1–7 nicht erwähnt, so dass die Apk vor 97 geschrieben sein müsste, was der herkömmlichen Datierung unter Domitian entspricht (gegen Datierungen unter Trajan oder Hadrian).
6. Zur Kanongeschichte: Während die ältere Forschung vor allem die Gegensätze der Kanonbildung zu Markion verfolgte, stellt sich inzwischen heraus, dass sich die neutestamentlichen Schriften lokal unterschiedlich verbreiteten. Der Vf. beteiligt sich an dieser Neubewertung und stellt heraus, dass Markions Wirken in Kleinasien in etwa parallel zu den Past datiert werden und Markion wie die Past ein Corpus von zehn Paulusbriefen zuzüglich des Lukasevangeliums voraussetzen könnte. Der Schrifttext des Markion wäre dann zunächst in etwa im Raum der Lokaltexte anzusiedeln. In diesem Raum aber könnte es auch schon heftige Kontroversen gegeben haben; der Vf. hält es gegen eine lange Forschungstendenz nicht für ausgeschlossen, dass 1Tim 6,20 doch auf die Antithesen des Markion anspiele (Marcion, die Past und die Anfänge des neutestamentlichen Kanons, 479–489, vgl. 329).
Weitere Akzente wären zu ergänzen (z. B. die klare Herausstellung der Unterschiede zwischen den Wundern bei den Synoptikern und den Semeia des Joh, 359–374). Doch mögen die Beispiele genügen. Sie verdeutlichen, in welcher Breite der Vf. die neutestamentliche Forschung durch seine genau recherchierten und unprätentiös geschriebenen Aufsätze bereicherte.