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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1373–1375

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Harryvan, Anjo G., and Jan van der Harst

Titel/Untertitel:

Max Kohnstamm. A European’s Life and Work.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2011. 186 S. = Veröffentlichungen der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Kommission der EG, 13. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-8329-5810-7.

Rezensent:

Martin Greschat

Max Kohnstamm zählte nach dem Zweiten Weltkrieg zu den politisch bedeutenden Persönlichkeiten in Westeuropa. Er war Niederländer, entstammte einer gutbürgerlichen Familie mit sechs Kindern. Der Vater, in Bonn geboren, repräsentierte ein rational-humanitäres liberales Judentum, war hochgebildet und sowohl in Naturwissenschaften wie auch in Geisteswissenschaften ungemein begabt. Zuletzt wirkte er als Professor für Pädagogik und Philosophie in Utrecht. Die Mutter war Mitglied der Reformierten Kirche, sie wurde in Niederländisch-Indien geboren, dem heutigen Indonesien. Über diesen Hintergrund sowie die Jugend von Kohnstamm informiert das erste Kapitel (16–41). Der junge Kohnstamm studierte Geschichte in Amsterdam, knüpfte jedoch vor allem politische, kulturelle und religiöse Kontakte, insbesondere zur Niederländischen Christlichen Studentenvereinigung. Hier erhielt er auch Informationen über die Bekennende Kirche in Deutschland. Aufgrund der Kontakte seines Vaters zur Ökumenischen Bewegung bekam Kohnstamm die Chance, seit dem Oktober 1938 in den USA ein Studienjahr zu verbringen. Er nutzte diese Zeit intensiv. Kohnstamm sah die sozialen und rassischen Probleme in den Staaten, doch das positive Urteil überwog, insbesondere im Blick auf die gesellschaftlichen Umbrüche im Zusammenhang mit dem New Deal. Die Bedeutung dieses Studienaufenthaltes für den weiteren Lebensweg von Kohnstamm lässt sich kaum überschätzen. Hier begann er, sich der Vision eines vereinten Europas anzunähern.
Der Abschluss seines Studiums im Mai 1940 fiel mit dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf die Niederlande zusammen. In den Kriegsjahren übernahm Kohnstamm eine führende Rolle in der Studentenvereinigung, seit 1941 lebte und agierte er illegal. Im Januar 1942 verhaftete man ihn, zusammen mit etwa 80 Personen aus dem akademischen Milieu, als Reaktion auf niederländische Untergrundaktivitäten (42–62). Es war das Ziel dieser dreimonatigen Haft im Lager Amersfort, die jungen Menschen zu erniedrigen und zu brechen. Kohnstamm blieb dauerhaft als Trauma in Erinnerung, wie er in der Winternacht Leichen in das Massengrab vor dem Lager tragen musste, gefolgt von einem Posten mit Gewehr und aufgepflanztem Bajonett. Mit Gleichgesinnten las er in der Bibel, vor allem das Buch Hiob, diskutierte über Sinnfragen und zweifelte zunehmend an der Möglichkeit, das erlebte Grauen mit der Vorstellung eines gütigen Gottes zu vereinbaren. Krank wurde Kohnstamm entlassen, um jedoch wenige Monate später erneut verhaftet zu werden, diesmal als Geisel. Die Behandlung in »Hitlers Herrengefängnis«, in dem er vom Juli 1942 bis zum September 1944 festgehalten wurde, war ordentlich, überlagert allerdings von der ständigen Angst, als Reaktion auf Aktionen des niederländischen Widerstands erschossen zu werden. Kohnstamm knüpfte in dieser Zeit eine Fülle von Kontakten, schloss auch Freundschaften mit Politikern und Ökonomen, Künstlern und allerlei Intellektuellen. Tief prägte ihn die Überzeugung, dass die Geltung des Rechts grundlegende Bedeutung für das humane Zusammenleben der Menschen besaß.
Königin Wilhelmina machte Kohnstamm in der Zeit von 1945 bis zu ihrer Abdankung am 4. September 1948 zu ihrem Privatsekretär (64–76). Für Kohnstamm war diese Zeit erneut wichtig im Blick auf die Bekanntschaft mit einflussreichen Persönlichkeiten im In- und Ausland, die er jetzt machen oder ausbauen konnte. Im Anschluss an diese Tätigkeit als Privatsekretär übernahm Kohnstamm eine Stelle in der Behörde, die für die Durchführung des Marshall-Plans in Westeuropa zuständig war (77–96). Bereits 1947 reiste er mit einer Delegation der Niederländischen Reformierten Kirche durch Deutschland. Er lernte dort viele Repräsentanten der evangelischen Kirche kennen, schloss Freundschaften, u.a. mit Gustav Heinemann. Kohnstamm begrub jetzt seinen Hass gegen Deutschland, betonte stattdessen die Notwendigkeit, die Deutschen und ihre Wirtschaft international einzubinden. In diesem Sinn intensivierte er in den nächsten Jahren seine Beziehungen zur Bundesrepublik. Die »Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit« (OEEC) sollte nach seinen Vorstellungen zum offenen Markt erweitert werden. Dafür setzte Kohnstamm vor allem auf die USA, während er die britische Europapolitik kritisch und die französische als falsch beurteilte. Bemerkenswert ist, dass Kohnstamm im unbedingten Einsatz für die Gestaltung der europäischen Staatengemeinschaft zunehmend den großen, übergeordneten Sinn seines Lebens sah, den ihm sein Glaube nicht mehr bot (92).
Wie eine Bombe schlug am 9. Mai 1950 die Ankündigung des Schuman-Plans ein, der darauf zielte, die Produktion von Kohle und Stahl in Westeuropa einer internationalen Hohen Behörde zu unterstellen. Der geistige Vater dieser Montanunion war Jean Monnet. Kohnstamm sah in ihm nicht nur die gleichgesinnte Persönlichkeit, sondern den charismatischen Führer, der bald auch zum Freund wurde. Seit dem Frühjahr 1952 agierte Monnet als Präsident der Montanbehörde und Kohnstamm als Generalsekretär (98–110). Beide arbeiteten in diesen »glorreichen Jahren« der europäischen Einigung überaus intensiv, kreativ und erfolgreich zu­sam­men. Nach dem Ausscheiden Monnets als Präsident wirkte Kohnstamm unermüdlich weiter als Lobbyist für die europäische Einigung. Dazu gehörte in den Jahren 1969 bis 1972 auch seine Kooperation mit verschiedenen Gremien des Ökumenischen Rates der Kirchen (111–127).
Ein eigenes Feld bearbeitete Kohnstamm dann von 1975 bis 1981 bei der Begründung, dem Aufbau und der Organisation des europä­-ischen Universitätsinstituts in Florenz (130–144). Auch hier ließ er sich nicht von Widrigkeiten und Widerständen entmutigen. Angesichts der erneuten Krise des europäischen Einigungsprozesses un­ternahm er dann noch einmal eine groß angelegte Aktion als Lobbyist mit wiederum rund 100 Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Ländern, um die Errichtung des gemeinsamen europä­ischen Marktes durchzusetzen (145–161). Auch hier agierte Kohnstamm im Hinter grund und spielte bewusst die »zweite Geige«. Zu­sammengefasst: »Genau 50 Jahre nach Kolumbus stand das Europa-Projekt somit metaphorisch für eine Wiederentdeckung Europas.« (161)
Trotz vielfältiger Informationen über das Leben und Wirken von Max Kohnstamm bietet dieser schmale Band zwar einen guten Überblick, jedoch keinen Ersatz für die wünschenswerte große Biographie. Vor allem vermisst man Anmerkungen und den Nachweis von Quellen für manchen aufschlussreichen Hinweis. Der Leser erfährt viel über den komplexen Prozess der westeuropäischen Einigung und Kohnstamms bedeutenden Anteil daran. Darüber hinaus veranschaulicht die Studie eindrücklich, wie insbesondere in der Nachkriegszeit politische Zielsetzungen und persönliche Kontakte, christliche, voran protestantische Überzeugungen und nicht zuletzt die Erfahrungen des Holocaust – der Vater überlebte im Untergrund, zwei Tanten von Kohnstamm wurden in Auschwitz ermordet – zusammen zu der leidenschaftlichen Verpflichtung wurden, dass sich dergleichen nie wiederholen dürfe. Dabei ging es Kohnstamm und vielen seiner Weggefährten jedoch nicht einfach um das emotionale »Nie wieder Krieg!« und »Nie wieder Auschwitz!«, sondern um ein alles Denken und Fühlen herausforderndes Bemühen, zu­mindest in Westeuropa Strukturen zu schaffen, die den Nationalismus bändigten und das humane Zusammenleben der Menschen förderten. Am Ende seines langen Lebens bezeichnete Kohnstamm den erreichten Zusammenschluss Europas trotz aller Mängel als eine große Erfolgsgeschichte. Am 20. Oktober 2010 ist er in Amsterdam gestorben.