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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1321–1323

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Carr, David M.

Titel/Untertitel:

Einführung in das Alte Testament. Biblische Texte – imperiale Kontexte. Übers. v. M. Ottermann.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2012. 336 S. m. 33 Abb. u. 11 Ktn. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-17-021727-0.

Rezensent:

Hans-Christoph Schmitt

Der am New Yorker Union Theological Seminary lehrende und durch seine Forschungen zum Pentateuch und zur mündlichen Überlieferung im Alten Orient und Hellenismus international bekannte Alttestamentler David M. Carr hat gleichzeitig mit seiner großen Literaturgeschichte »The Formation of the Hebrew Bible : A New Reconstruction« (Oxford 2011) 2010 ein Lehrbuch publiziert mit dem Titel »An Introduction to the Old Testament: Sacred Texts and Imperial Contexts of the Hebrew Bible«. Dieses Lehrbuch liegt jetzt in einer von E. S. Gerstenberger betreuten deutschen Übersetzung (Stuttgart 2012) vor, wobei sich die Mitarbeit von Gerstenberger vor allem auf das Einleitungskapitel zu Bibelübersetzungen (Vorstellung von deutschen Bibelausgaben anstelle englischer Bi­beln) und auf die Redaktion des Buches konzentrierte.
Anders als in der »Literaturgeschichte«, in der C. von der Hasmo­näerzeit ausgehend zu den Texten der frühen Königszeit zurück-fragt, korreliert er in der »Einführung« die Entwicklung der alttes­tamentlichen Literatur von ihren frühesten Anfängen bis zur Ka­nonbildung mit der Entwicklung der politischen Kontexte. Durch diese Darstellungsform wird in einer noch überzeugenderen Weise als in C.s Literaturgeschichte deutlich, dass sich alttestamentliche Literatur nicht erst – wie heute häufig angenommen wird – am Ende der Staatlichkeit Israels bildet, sondern dass schon aufgrund der »Schreiberausbildung« mit der Entstehung von Literatur in den frühen israelitischen Monarchien zu rechnen ist. Diese von C. entwickelte Geschichte der alttestamentlichen Literatur soll hier – beschränkt auf exemplarische Fragestellungen – anhand des Aufbaus des Lehrbuchs kurz skizziert werden.
Die alttestamentliche Literaturentwicklung lässt C. in Kapitel 2 mit der vormonarchischen Dorfkultur des »Alten Israel und seiner ersten mündlichen Überlieferungen« beginnen. Er nimmt an, dass sich bereits in vorstaatlicher Zeit eine mündlich tradierte israelitische Überlieferung herausgebildet hat, die erst später verschriftet wurde. C. denkt dabei u. a. an mündliche Exoduserzählungen (Ex 2.5–10) unter Einschluss des Mirjamliedes Ex 15,20 f., an die »Betrüger«-Geschichten der Jakobüberlieferung von Gen 25.27–35 und an den Kernbestand des Deboraliedes von Ri 5. Diese Überlieferungen fügen sich insofern gut in die vorstaatliche Gesellschaftsform ein, als sie durchweg geprägt sind von der »kulturellen Erinnerung an den Widerstand gegen Unterdrückung« (73).
Die Entstehung einer israelitischen Schriftkultur führt C. dann in Kapitel 3 auf den Beginn des israelitischen Königtums unter David und Salomo zurück. Dabei sieht er als »Verfasser der ersten Sammlung von schriftlichen hebräischen literarisch-theologi­schen Texten« die in den Hofbeamtenlisten genannten »Schreiber« Davids und Salomos an (79). Diesen Beamtenlisten ist zu entnehmen, dass sich die unter David und Salomo entwickelnden neu-en Herrschaftsstrukturen an ausländischen Monarchiemodellen orien­tierten (unter Vermittlung der syrisch-palästinischen Monarchien, die ihrerseits unter dem Einfluss Ägyptens und Mesopotamiens standen). Auf diesem Hintergrund rechnet C. zu Recht mit der Übernahme von altorientalischen – für die Ausbildung des Führungspersonals des Königreiches wichtigen – höfischen Textgattungen (»Königs- und Zionstexte«) durch die Schreiber der frühen israelitischen Monarchie. So entstanden hebräische Versionen von »Mythen über Schöpfung und Flut, Hymnen über den König, Belehrungen über die rechte Lebensführung usw« (88). Die Kernbestände der Königspsalmen (besonders behandelt werden Ps 2; 72; 110; 132) und der Zionspsalmen (genannt werden Ps 9; 15; 24; 29; 46; 48) stellen somit »›Echos‹ altorientalischer Königstheologie« (88) dar.
Solche »Nachklänge vergangener Großreiche« findet C. in Kapitel 4 auch in Schriften, die Salomo zugeschrieben werden, wie Ho­heslied (vgl. Bezüge zur altägyptischen Liebeslyrik), Kohelet (vgl. Verwandtschaft mit der Botschaft des Gilgamesch-Epos), Proverbienbuch (vgl. Spr 22,17–24,22 mit Lehre des Amenemope). Eine entsprechende Abhängigkeit von altorientalischen Vorbildern zeige sich jedoch auch beim »Bundesbuch« von Ex 20,22–23,33 (vgl. Kodex Hammurapi) und bei der nichtpriesterlichen »Urgeschichte« (vgl. Atrahasis-Epos). Letztere weist C. in etwas missverständlicher Weise einem »Jahwisten« ohne Väter- und Mosegeschichte zu.
Beachtenswert ist, dass unter David und Salomo die spezifisch israelitischen mündlichen Traditionen über Jakob, Mose, Debora usw. noch nicht verschriftet wurden. Nach Kapitel 5 geschah dies erst infolge der Loslösung des Nordreiches von der Daviddynastie, als die nordisraelitischen Schreiber ein »Kontercurriculum« (120) zu den Jerusalemer Schultraditionen entwickelten. In ihm dominierten »Themen, Orte und Helden aus dem Nordreich« (122: u. a. Kernbestände der Jakobs-, Josefs- und Exodusgeschichte). Auch bei der sich in der Zeit der assyrischen Eroberung herausbildenden Schriftprophetie des Nordreichs (vgl. vor allem Hosea) zeigt sich ein Bezug auf dieses Nordreichcurriculum von Jakob- und Exodustradition. Bestätigt wird der Unterschied zwischen den literarischen Überlieferungen des Nord- und des Südreiches in Kapitel 6 durch den Befund, dass die etwa gleichzeitig entstehende Südreichprophetie (Micha, Jesaja) vor allem die Königs- und Zionstradition thematisiert.
Kapitel 7 behandelt die besonders im Deuteronomium zu beobachtende Adaption und Uminterpretation assyrischer Literaturformen, die C. mit dem in den »postcolonial studies« entwickelten Begriff der »kulturellen Hybridität« (173 f.) bezeichnet. Er denkt dabei vor allem an die Aufnahme der Form des assyrischen Vasallenvertrags im (als »Tora des Mose« verstandenen) Deuteronomium, bei der an die Stelle der Treue zum assyrischen König die »Loyalität zu Jahwe allein« tritt. In diesem Zusammenhang werden in Juda (vor allem unter Josia) auch Nordreichüberlieferungen (besonders die Jahwe-allein-Forderung Hoseas und die Elia-/Elisa­tradition) rezipiert. Entsprechendes gilt auch für das deuterono­mis­tisch erweiterte Jeremiabuch (vgl. Kapitel 8) und für das Deuteronomistische Geschichtswerk von Dtn bis 2Kön, dessen Grundfassung nach C. schon in der Zeit Josias oder sogar bereits in der Zeit Hiskias entstanden ist und das in der Exilszeit erweitert wurde (vgl. Kapitel 9).
Aus der »Traumasituation« der Exilszeit (vgl. 210) erklärt Kapitel 10 dann die Entstehung der Priesterschrift (P) und einer weiteren etwas älteren Pentateuchquelle, in die die nichtpriesterliche Urgeschichte und die nichtpriesterlichen Erzählungen über Jakob, den Exodus und die Wüstenwanderung aufgenommen wurden. C. benennt diese Größe, die weitgehend dem »Jahwisten« der traditionellen Pentateuchkritik entspricht, mit der einst von Otto Eißfeldt für seinen älteren Jahwisten gebrauchten Bezeichnung »Laienquelle« (L). M. E. wäre hier die traditionelle Bezeichnung »Jahwist« weniger missverständlich.
Die Zusammenarbeitung der beiden Quellen zu einer neuen »Mose-Tora« für die Rückkehrergemeinde in Jerusalem wird im Rahmen der in Kapitel 11 und 12 behandelten Perserzeit thematisiert. Nach C. ist die Verbindung von L und P durch eine persische »Reichsautorisation« gefördert worden, die er vor allem durch Esr 7 belegt sieht. Auch wenn C. diese Verbindung nicht »als einen ausschließlich politischen Prozess«, sondern als Ausdruck »theologisch-literarischer Genialität« versteht (261), rechnet er doch bei ihr nur mit bloßer Kompilation und – anders als die Mehrheit der gegenwärtigen Forschung – nicht mit theologischen Erweiterungen.
Abgeschlossen wird das Lehrbuch in Kapitel 13 durch eine Darstellung der Zeit der hellenistischen Reiche, in die C. auch die Entstehung des »Kanons« der »Hebräischen Bibel« ansetzt. Nach ihm ist der Kanon dadurch entstanden, dass etwa um 100 v. Chr. die Hasmonäer ein Corpus hebräischer Schriften als Curriculum für die Ausbildung ihrer Staatsschreiber festlegten.
Das Referat zeigt, dass das Lehrbuch den ihm zugrunde liegenden Ansatz, »dass sich die Entwicklung biblischer Texte am besten verstehen lässt, wenn man sie von der Geschichte ihrer Entstehung her angeht« (13), in überzeugender Weise umsetzt. Auch wenn man in vielen Datierungsfragen anderer Meinung als C. sein kann, so erweisen sich seine Versuche, die alttestamentlichen Texte mit der Geschichte Israels und des Alten Orients zu korrelieren, doch als durchweg sehr anregend. Besonders zeigt sich auch bei der gegenwärtig so kontrovers diskutierten Pentateuchforschung, dass es in den großen Linien mehr Konsens gibt, als man oberflächlich vermutet.
Gleichzeitig ist das Buch, dem zahlreiche Bilder und Karten und auch ein Glossar und ein Sachregister beigegeben sind, didaktisch äußerst hilfreich angelegt. So wird der Stoff der einzelnen Kapitel in sehr übersichtlicher Weise vermittelt, indem ihnen jeweils »Boxen« zugeordnet sind, die in tabellarischer Form einerseits Basiswissen zu den einzelnen alttestamentlichen Büchern und andererseits Informationen zu weiterführenden Fragen, zu Methodenproblemen und zu Lektürestoff enthalten. Auch wird jedes Kapitel mit Repetitionsfragen abgeschlossen. Man ist dem Verlag und dem Herausgeber dankbar, dass diese »Einführung« jetzt auch deutschen Studierenden problemlos zugänglich ist.