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Ausgabe: | November/2013 |
Spalte: | 1271–1272 |
Kategorie: | Systematische Theologie: Dogmatik |
Autor/Hrsg.: | Schneider-Flume, Gunda |
Titel/Untertitel: | Realismus der Barmherzigkeit. Über den christlichen Glauben. |
Verlag: | Stuttgart: Radius Verlag 2012. 174 S. Geb. EUR 16,00. ISBN 978-3-87173-935-4. |
Rezensent: | Ulrich H. J. Körtner |
Die Barmherzigkeit Gottes ist nicht nur der cantus firmus des vorliegenden Büchleins, sondern überhaupt der Theologie Gunda Schneider-Flumes. Sie ist davon überzeugt, dass von dieser Barmherzigkeit in erster Linie erzählt werden muss, weil sie sich nur dem erschließt, der sich mit seiner eigenen Lebensgeschichte in die Geschichte Gottes hineingenommen weiß. Auch Dogmatik als Reflexion und Rechenschaft des christlichen Glaubens hat nach Ansicht der Vfn. eine narrative Grundstruktur – oder sollte sie doch zumindest haben, soweit sie sich an der biblischen Gottesrede orientiert, die über weite Strecken von Gott erzählt. »Dogmatik erzählen« lautet der Titel ihres Programms einer narrativen Dogmatik, das sie konzentriert in ihrem Lehrbuch »Grundkurs Dogmatik« (2004) präsentiert hat.
Das vorliegende Bändchen wendet sich an eine breitere Leserschaft. In leicht verständlicher, dabei zugleich konzentrierter und gepflegter Sprache bietet es eine Einführung in den christlichen Glauben. Die biblischen Erzählungen sind nicht nur ihr Material, sondern auch die Schule des Denkens und der Sprache. So nimmt die Vfn. ihre Leser in eine Denkbewegung hinein, die meditativ dem Gefälle der biblischen Texte folgt, in der Hoffnung, dass sich durch die elementare Begegnung mit ihnen der christliche Glaube und seine Botschaft neu erschließen. Dabei werden auch Literatur, Philosophie und Psychologie mit ins Gespräch gezogen. Die narrative Annäherung an die biblischen Überlieferungen verdichtet sich, wie schon in früheren Büchern der Vfn., immer wieder in gedichtartigen Meditationen.
Wie der Husserl-Schüler Wilhelm Schapp beschreibt die Vfn. unser Dasein als in Geschichten verstricktes Sein (11 ff.). Auch Paul Ricœur ist für sie ein wichtiger Gesprächspartner. Ihr Anliegen ist es, die Spuren der nach ihrem Urteil weithin vergessenen Gottesgeschichte in unseren Lebensgeschichten freizulegen (15 ff.) und den Standort des Menschen in der Geschichte Gottes zu bestimmen (57 ff.). Das aber kann nach ihrer Auffassung nur gelingen, wenn man sich auf die Bewegung dieser Geschichte einlässt (26 ff.). Dass Gott eine Geschichte hat und sich auf die Geschichte mit dem Menschen einlässt, zeigt sich nicht erst in der Menschwerdung Christi, sondern bereits in dem denkwürdigen biblischen Motiv der Reue Gottes, das der Erfahrung seiner Barmherzigkeit korrespondiert (74 ff.). Auch der Mensch ist ein geschichtliches, durch Geschichte und Geschichten geprägtes Wesen, weshalb die statische Rede von einem christlichen Menschenbild bei der Vfn. auf berechtigte Kritik stößt (41 ff.).
»In einer sich selbst säkularisierenden Kirche«, so die Vfn., »ist das Erzählen Gottes anstößig« (10). Für Menschen, die der christlichen Tradition inzwischen fernstehen, sei es überhaupt nur noch merkwürdig. Denn was hier erzählt wird, steht im Kontrast zu den Werten der heutigen Gesellschaft, die auf Selbstverwirklichung, Leistung, Erfolg und gelingendes Leben geeicht ist. Die Fremdheit, Anstößigkeit und Unverständlichkeit der biblischen Botschaft und der überlieferten Worte christlicher Tradition bilden also den Ausgangspunkt der Reflexionen der Vfn. Das erinnert an die Diagnose Bonhoeffers in seinen Gefängnisbriefen.
Unverständlich sei heute auch der zentrale Begriff der Barmherzigkeit. Nach biblischem Verständnis handele es sich nicht um »diffuse Gefühligkeit«, sondern um »die freiwillige Selbstzurück-nahme, die Raum und Zeit für Leben gibt« (9). Hermann Spieckermann identifiziert die Gnadenformel Ps 103,8 – »Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte« – als Mitte des Alten Testaments (vgl. 30). Von ihr aus erschließt sich für die Vfn. überhaupt erst in rechter Weise der Gedanke der Allmacht Gottes, nämlich als Allmacht der göttlichen Liebe und des Erbarmens, das in Kreuz und Auferstehung Christi zum Vorschein kommt. Durchgängig arbeitet die Vfn. die kontrafaktischen Züge eines angefochtenen Glaubens heraus (142 ff.); seinen Möglichkeitssinn, der zu zeitgenössischen Ansichten der Wirklichkeit im Widerspruch steht, aber als Möglichkeitssinn gerade mehr Realismus zeigt als der vermeintliche Wirklichkeitssinn anderer Weltdeutungen. »Die Erfahrung gewährten und bewahrten Lebens schafft Mut in der Situation der Bedrängnis und in der Zeit des Unglücks und provoziert Vertrauen gegen die Wirklichkeit.« (20) Der Realitätssinn des Glaubens zeigt sich in der Hoffnung auf das eschatologische Neuwerden des Menschen und der Welt (126 ff.), so dass auch der Sinn der Rede von der Schöpfung erst vor dem Horizont christlicher Eschatologie verstehbar wird (158 ff.). Die Kategorie des Neuen ist neben derjenigen der Barmherzigkeit ein Leitbegriff dieses Buches (vgl. 91 ff.107 ff.).
»Wirklichkeit«, schreibt die Vfn., »verändert sich, weil sich mit der erzählten Geschichte neue Dimensionen erschließen« (20). Weil es das wirklichkeitserschließende und wirklichkeitsverändernde Potential der biblischen Texte ernstnimmt, ist ihr Buch ist im besten Sinne des Wortes erbaulich.