Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1240–1241

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Dinzelbacher, Peter

Titel/Untertitel:

Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2006. 347 S. m. 8 Abb. Kart. EUR 16,90. ISBN 978-3-506-75613-8.

Rezensent:

Ulrich Köpf

Peter Dinzelbacher, durch zahlreiche Veröffentlichungen seit Jahrzehnten als ausgezeichneter Kenner der mittelalterlichen Frömmigkeit bekannt, bietet in diesem Band eine Auswahl seiner Aufsätze – »alle durchgesehen, gegebenenfalls korrigiert, stellenweise erweitert oder, wo es zu längeren Wiederholungen innerhalb dieses Bandes gekommen wäre, auch gekürzt«. Leider folgt er nicht der wissenschaftlichen Gepflogenheit, eine Liste der ursprünglichen Veröffentlichungsorte beizugeben, so dass ein Vergleich mit der Erstfassung und eine Einordnung in den Entstehungszusammenhang (z. B. 229, Anm. 13, der Hinweis auf eine nicht näher genannte Tagung) nicht möglich ist. Nur gelegentlich lässt sich aus einem Querverweis (z. B. 25, Anm. 66) Auskunft über den ursprünglichen Erscheinungsort gewinnen.
Das im Titel genannte Thema wird in der ersten Studie »Über die Körperlichkeit der mittelalterlichen Frömmigkeit« (11–49) in grundsätzlicher Weise unter den beiden Aspekten des Gegensatzes zwischen Körper und Seele bis hin zum »Zerbrechen des Körpers« in Askese und Leiden sowie der Auffassung von der »Körperlichkeit der Seele« behandelt. Es findet sich sodann wieder in Beiträgen über »Selbstkreuzigung und -stigmatisation als konkrete Kreuzesnach­folge« mit einem Ausblick bis ins 20. Jh. (51–77), »Die Gottesgeburt in der Seele und im Körper« (79–109), die ins Körperliche des Gläubigen hinein wirkende »Unio mystica« (111–146), Auffassungen vom Blut Chris­ti (147–180), seiner Wirkung als »schaubare aber nicht unmittelbar zugängliche Reliquie und das andere Mal als unmittelbar erlebbarer Gnadenquell aus dem Körper Christi« (179), und dem zu konkreten Erfahrungen führenden Dämonenglauben der Zisterzienser (181–195).
Daneben gehen Betrachtungen über »Die Achsenzeit des Hohen Mittelalters und die Ketzergeschichte« (197–224), über die religiöse Frauenbewegung – gemeint sind im Wesentlichen die Beginen – in der mittelalterlichen Stadt (225–257), über »Heiligkeitsmodelle«, von denen 13 unterschieden (259–280), und »falsche Heilige«, von denen acht Typen herausgearbeitet werden (281–307), weit über das Thema hinaus. Ein Beitrag über den »mystischen Maibaum« (309–317) verfolgt die Aufnahme eines Volksbrauchs in die mystische Literatur (311–317) und verlässt ebenso den Themenbereich des Titels wie knappe Bemerkungen über »Die Zeit in der urbanen Mentalität des Mittelalters« (319–334). Ein knappes Plädoyer für die Einbeziehung der »Psychohistorie« oder (besser, vgl. 335, Anm. 2) »historischen Psychologie« in die Behandlung der mittelalterlichen und antiken Geschichte (335–347) beschließt den Band.
Mit Recht macht D. gegenüber dem einseitig allein auf den Text gerichteten Interesse vieler Literaturwissenschaftler geltend, dass sich Historiker (auch Kirchenhistoriker!) ebenso für »das gelebte Leben der Vergangenheit interessieren, von dem in schriftlichen Aufzeichnungen berichtet wird« (79) und das sich – wie man im Sinne D.s ergänzen kann – auch in bildlichen Zeugnissen ausdrückt. Spätestens seit seiner »Europäischen Mentalitätsgeschichte« (Stuttgart 1993) versteht sich D., wie aus dem Titel und zahlreichen Stellen des vorliegenden Bandes hervorgeht, als Mentalitätshistoriker, wodurch er dem inzwischen vielfach als antiquiert gel­tenden Begriff »Frömmigkeitsgeschichte« aus dem Wege geht oder ihn in einen größeren, auch nichtreligiöse Aspekte einbeziehenden Rahmen stellt. Doch bleiben die Phänomene, die er vorzugsweise behandelt, trotz seiner Bemühung um innere Distanzierung von einer »Religion wie das katholische Christentum« (spürbar von der ersten Seite [11] an) und kleinen Seitenhieben gegen die Theologen, die meinten, »im Besitz der alleinigen Wahrheit« zu sein (344), auch in seiner Art der Behandlung immer Zeugnisse christlicher Frömmigkeit. Wegen des in ihnen vorausgesetzten heutige Christen – Katholiken wie Protestanten – in der Regel befremdenden Wirklichkeitsverständnisses bedürfen sie freilich nach sorgfältiger historisch-kritischer Behandlung der Quellen einer In­-terpretation ihrer Inhalte, die von sachlichem Verständnis und zugleich von der Bemühung um eine möglichst vorurteilsfreie, von Empathie getragene Sicht bestimmt ist. Die Kirchengeschichte, die an dieser Arbeit mitwirkt, ist zwar nicht auf »das Licht der Dogmatik« angewiesen (vgl. die Kritik D.s, 182), wohl aber auf eine alle theologischen Disziplinen umfassende Kenntnis der Sachen, um die es geht, und auf eine gerade auch in der Theologie gepflegte Hermeneutik.
Natürlich sind D. solche Überlegungen nicht unbekannt. Aus seiner gründlichen Kenntnis der Quellen und der Forschung – auch der auf dem Gebiet der Frömmigkeitsgeschichte besonders regen ausländischen, vor allem der italienischen Forschung – gewinnt er ein Problembewusstsein, das zu vielen wichtigen Einsichten verhilft. Die von ihm programmatisch verlangte Einbeziehung der psychologischen Betrachtungsweise in die historische Arbeit ist dem Verständnis befremdlicher Verhaltensweisen zweifellos förderlich. Doch zeigen sich ihre Grenzen, wenn D. etwa fragt: »Mit welchen psychologischen Kategorien ist es zu erfassen, dass sich gerade Kreuz und Kruzifix und keines der anderen möglichen Symbole (Fisch, Alpha Omega etc.) als alleinherrschend durchgesetzt haben?« (22)
Es bedarf keiner tiefsinnigen Erklärungen, um zu begreifen, dass sich darin die Geschichtlichkeit des Gekreuzigten gegen alle symbolischen Deutungen des Christusglaubens behauptet hat. Gewiss wäre es die Aufgabe einer verstehenden historischen Analyse, unter Einbeziehung psychologischer Gesichtspunkte zu untersuchen, wie sich das durch die zentrale Stellung von Kreuz und Kruzifixus bei den Gläubigen hervorgerufene Mitleiden einschließlich des bewussten Nachvollzugs von Leiden, von D. »Dolorismus« genannt (22 u. ö.), gegenüber anderen Frömmigkeitsimpulsen (etwa von Advent, Weihnachten und Ostern) verhält. Dagegen ist es problematisch, die auf das Leiden bezogene Frömmigkeit und ihren Ausdruck in Askese, Selbstzufügung von Leiden u. Ä. isoliert zu betrachten und gar zum Angelpunkt der Deutung von Frömmigkeit und Mentalität zu machen.
Methodisch ist eine solche thematische Engführung freilich oft unvermeidlich. Deshalb stellen die materialreichen Aufsätze D.s trotz ihrer Grenzen wertvolle Beiträge zur Frömmigkeitsgeschichte dar, die durch die Vielfalt der benutzten Quellen und originellen Vergleiche der Inhalte das herkömmliche Bild der mittelalterlichen Frömmigkeit wesentlich bereichern. Wenn sich D. häufig mit einer bloßen Nacherzählung oder Inhaltsangabe der in den Quellen überlieferten Berichte begnügt, dann leistet er auch damit eine wichtige Vorarbeit, bei der die Forschung jedoch nicht stehen bleiben darf.
Sein Buch bietet jedem, der sich mit der mittelalterlichen Frömmigkeit und Mentalität beschäftigt, unentbehrlichen Stoff und wertvolle Anregungen. Schade, dass der Abdruck der Aufsätze mit wenig Sorgfalt erfolgt ist: ohne jede Angleichung der Fußnoten und Literaturangaben, mit zahlreichen Flüchtigkeitsfehlern und ohne ein Register, durch das der reiche Inhalt des Werks sich besser hätte erschließen lassen.