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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1165–1167

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Holzner, Thomas, u. Hannes Ludyga [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Entwicklungstendenzen des Staatskirchen- und Religionsverfassungsrechts. Ausgewählte begrifflich-systematische, historische, ge­genwartsbezogene und biographische Beiträge.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2013. 650 S. = Kirchen- und Staatskirchenrecht, 15. Kart. EUR 78,00. ISBN 978-3-506-77633-4.

Rezensent:

Hans-Tjabert Conring

Dieser Band sieht die Zukunft des Staatskirchenrechts als Religionsverfassungsrecht. Ganz unterschiedliche Beiträge sind versammelt, deren einendes Band die Vorstellung einer notwendigen Fortentwicklung des Verhältnisses von Staat und Religion ist. Die Leser erwarten ausgewählte begrifflich-systematische, historische, gegenwartsbezogene und biographische Beiträge zum Staatskirchen- und Religionsverfassungsrecht (so der treffliche Untertitel). Die 22 Autoren und zwei Autorinnen tragen in 26 Aufsätzen juris­tische, theologische, historische und politikwissenschaftliche Perspektiven ein und schärfen so den Eindruck, das Thema sei nur interdisziplinär begreifbar. – Wer den Band vollständig liest, wird fast alle Themenkreise des Religionsverfassungsrechts berührt haben und feststellen können, dass ein Gesamtliteraturverzeichnis eine breite Auswahl der verfügbaren Literatur umfassen würde – freilich haben die Herausgeber auf ein Literaturverzeichnis sowie Register verzichtet. Hier kann das Kaleidoskop des zu besprechenden Bandes nur exemplarisch angedeutet werden.
Das formale Unterscheidungsmerkmal zwischen Kirchenrecht und Staatskirchenrecht ist der Normgeber. Der Staat erlaubt den Kirchen (vgl. Art. 140 Grundgesetz), die eigenen Angelegenheiten entsprechend dem je eigenen Selbstverständnis zu ordnen. Darin kommt die Neutralität des Staates zum Ausdruck, also die Erkenntnis, dass dem Staat für die Beantwortung der Gretchenfrage keine Kompetenz zusteht. Das Kirchenrecht ist die Ausformung dieser staatlich gewährten Freiheit durch eigene, normsetzende Organe der Kirchenorganisation(en). Für die Arbeit im Grenzgebiet zwischen Staatsrecht, Kirchenrecht und (praktischer) Theologie ist der Hinweis von Ino Augsberg (Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht – Ein Beitrag zur Begriffsdiskussion, 73–92) auf James Boyd White (How Should We Talk About Religion? Perspectives, Contexts, Particularities, 2006, dort: Introduction, 2) hilfreich, der nicht annimmt, »dass es eine ›Metasprache‹ gibt, in die alle Religionen zum Zwecke ihres Vergleichs oder wechselseitiger Verständlichkeit übersetzt werden können« (86/87).
Stellvertretend für die fünf begrifflich-systematischen Beiträge zur Begriffsarbeit Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht sei auf den schon erwähnten Beitrag von Augsberg als Einstieg hingewiesen. Die fundierte Auswertung der aktuellen Literatur und konzise Darstellung erhellt durch nachvollziehbare Entfaltung der Argumente und ist – auch wegen der eingespielten systemtheoretischen Perspektive – anknüpfungsfähig. Weder be­handelt das Staatskirchenrecht »Staatskirchen« noch beschränkt es sich auf christliche »Kirchen«, und es betrifft nicht nur Staaten, sondern auch die Menschen selbst (individuelle Religionsfreiheit). Seine Bedeutung gewinnt die Begriffsarbeit aber erst jenseits der Wortauswahl. Gemeint ist nämlich eine Akzentverschiebung zu Lasten der institutionellen Sicherung (Art. 140 GG) und zugunsten der grundrechtlichen Prägung des Rechtsgebietes (individuelle Religionsfreiheit nach Art. 4 GG), ohne dem religiösen Glauben seinen Charakter als »ein wesentlich kollektives und sich in etablierten Institutionen vollziehendes Geschehen« (76.77) zu nehmen.
Unter der Rubrik Historischer Zugriff finden sich sechs Beiträge. Darunter Kurzdarstellungen des Staatskirchenrechts in Weimarer Zeit (Thomas Holzner, 207 ff.), in der NS-Zeit (Lukas Bormann, 243ff.) und in der DDR (Martin Otto, 269 ff.). Letzterer weist auf interessante Details des eigenwilligen und schwankenden Verhältnisses der DDR zu den Kirchen hin. Zwar konnte die junge DDR an Kirchenfeindlichkeiten der Weimarer Zeit anknüpfen (270), gleichwohl hat die Strafprozessordnung der DDR von 1968 das kirchliche Seelsorgegeheimnis ausdrücklich durch ein Aussageverweigerungsrecht flankiert (302) und dieses wohl auch praktisch respektiert.
Aus den sieben Beiträgen im Abschnitt Gegenwart sei auf Rauf Ceylan (Das Verhältnis von Staat und Religion im Islam unter Berücksichtigung der islamischen Quellen und Geschichte, 433–448) als eine wichtige Ergänzung in dem Sammelband hingewiesen. Hier wird die Größenordnung der wissenschaftlich zu leistenden kulturellen Übersetzungs- und Verständigungsarbeit thematisiert und sichtbar. Begriffe wie »Heiliger Krieg«, »Dschihad (arab. sich bemühen, sich anstrengen)« (438) sind kaum ohne Konnotationsschrammen in unserer Sprachwelt wiederzugeben und be­dürfen deshalb eines sorgsam umsichtigen Umgangs. Ceylan be­schreibt die für islamische Rechtsdogmatik wichtige Frage der Schließung des Tores zum Idschtihad einfühlsam und kenntnisreich. Dahinter mag die Frage, ob dies erst im 14./15. Jh. (so Ceylan, 440) oder doch schon um 900 n. Chr. (so z. B. Gerhard Endreß in seinem Standardwerk »Der Islam« 1991, 81) geschehen sei oder ob hier unterschiedliche Zeitrechnungen gemeint sind, gerne zurückstehen. Zustimmungsfähig ist sicher Ceylans Ruf nach der »Etablierung einer muslimisch-wissenschaftlichen Community« in der deutschen und europäischen Hochschullandschaft, weil die Auseinandersetzung über das Verhältnis von Staat und Religion eine Frage der Freiheit des Menschen ist (448).
Die abschließende Perspektive biographischer Darstellungen bietet originelle und beziehungsreiche Einblicke in das Wissenschaftsgebiet des Staatskirchenrechts. Sie schließt den Kreis zu der eröffnenden Darstellung des Staatskirchenrechts bei Christian Waldhoff (Staatskirchenrecht – eine Begriffsbestimmung, 13–27), der eine Namenliste der deutschen Hochschullehrer bietet (20–22), die aktuell für die Wissenschaft vom Staatskirchen- und Religionsverfassungsrecht stehen. Felix Grollmann nutzt die Darstellung des Wirkens von Rudolph Sohm (1841–1971) auch für eine gründliche Darstellung der notorischen These, wonach zwischen Kirche und Kirchenrecht ein wesenhafter Widerspruch bestehe. Im Ab­schnitt »biografische Arbeiten« werden weiter Ulrich Stutz (1868–1938), Rudolf Smend (1882–1975), Erik Wolf (1902–1977), Ulrich Scheuner (1903–1981), Werner (1928–2003) und Ernst-Wolfgang (*1930) Böckenförde sowie Joseph Listl (*1929) dargestellt. Hinnerk Wissmann (Konrad Hesse – Religion im freiheitlichen Verfassungsstaat. Eine biographische Skizze, 572–585) erläutert sorgfältig und beziehungsreich Werk und Wirken von Konrad Hesse (1919–2005), der zu dem Geburtsjahrgang von Hans und Sophie Scholl sowie von Helmut Schmidt gehört (572). Hesse ist der »Erfinder« der praktischen Konkordanz (576), die als dogmatisches Instrument für viele Kirchenleute erst durch das jüngste Urteil des Bundesarbeitsgerichtes (20. Nov. 2012, Az. 1 AZR 179/11) neu ins Blickfeld gerückt wurde. Der Aufsatz von Hesse, Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen, aus dem Jahr 1965 (ZevKR 11 [1964/65], 337 ff.) be­schreibt die Lage des freiheitlichen Staatskirchenrechts bis heute treffend, denn dort werden hellsichtig und nüchtern die »Anforderungen eines Religionsverfassungsrechts in der pluralistischen Gesellschaft« skizziert (580).
Der vielseitige Band ist lesenswert und anregend für Fachleute gleichermaßen wie für Bildungshungrige.