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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1155–1157

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hauschildt, Eberhardt, u. Uta Pohl-Patalong

Titel/Untertitel:

Kirche.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2013. 477 S. = Lehrbuch Praktische Theologie, 4. Kart. EUR 29,99. ISBN 978-3-579-05990-7.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Der tiefgreifende Transformationsprozess, in dem die deutschen evangelischen Landeskirchen und katholischen Bistümer sich befinden, regte bereits zu zahlreichen kirchentheoretischen Publikationen an. Dazu leisteten Eberhard Hauschild und Uta Pohl-Patalong wichtige Beiträge. Das vorliegende Werk ist eine Gemeinschaftsarbeit, deren Inhalte beide unterschiedslos verantworten. Die Vf. »möchten ein vielperspektivisches, wiewohl aber konsistentes Bild der evangelischen Kirche zeichnen, das zur geschärften Wahrnehmung vorhandener kirchlicher Phänomene und Praxis so­wie zu ihrer Weiterentwicklung im 21. Jahrhundert beiträgt« (438). Die Kirchentheorie betrachten sie als fundamental für die ganze Praktische Theologie. Das vorliegende Werk baut auf den Darstellungen von Preul und Hermelink auf, setzt aber eigene Ak­zente u. a. durch eine stärkere Berücksichtigung der betriebswirtschaftlichen Perspektive. Ökonomische Probleme sind ein wichtiges Motiv in den gegenwärtigen Reformbemühungen, aber bedeutsamer ist die im Schlusskapitel verhandelte Frage nach Auftrag und Aufgaben der Kirche in der Welt. Die Vf. beantworten sie mit der weithin konsensfähigen Formel »Kommunikation des Evangeliums«. Was das konkret heißt, wird im 7. Kapitel expliziert, kommt aber auch in den anderen Kapiteln mehr implizit zur Geltung.
Im 1. Kapitel werden knapp einige ekklesiologische Aspekte erörtert und geschichtliche Stationen der Kirchentheorie skizziert. Kapitel 2 beschreibt die gegenwärtige Situation der Kirche in soziologischer Sicht und würdigt die Bedeutung der Kirche als Ort von Religion angesichts des verbreiteten Krisenbewusstseins. »Kirchenbilder im Widerspruch« reflektiert Kapitel 3. In Abwandlung der von Troeltsch beschriebenen Sozialformen wird Kirche 1. als in aktiven Gruppen lebendige Bewegung, 2. als in der Volkskirche exis­tierende Institution und 3. als Organisation, die als »Unternehmen« zu führen ist, dargestellt. Die Vf. plädieren dafür, die Widersprüche zwischen den Modellen auszuhalten und ihre positiven Potenzen zu kombinieren, was sie als Hybrid aus Institution, Organisation und Bewegung bezeichnen. Ob »Hybrid« angesichts der sprachlichen Nähe zu »Hybris« ein geeigneter ekklesiologischer Begriff ist, darf man fragen. Wichtiger ist das Bemühen, unfruchtbare Gegensätze zu meiden, wie ein Zitat von Nikolaus Schneider zeigt: »Wir wollen eine Kombination, in der das ›Missionarisch sein‹ das ›Volkskirche sein‹ stärkt und umgekehrt« (219).
Kapitel 4 beschreibt zunächst die Kirche als Konfessionsgebilde, indem ein Viererfeld der Kirchenfamilien mit den jeweiligen Stärken und Schwächen unterschieden wird. Dabei kommt die weltweit wachsende Bedeutung der Pfingstkirchen und anderer Heiligkeitskirchen dadurch zur Geltung, dass diese als vierter Typ neben den orthodoxen Kirchen, der katholischen Kirche und den Kirchen der Reformation Beachtung finden. Die evangelische Kirche wird sodann als Rechtsgebilde von der Ortsgemeinde bis zu den großen organisatorischen Zusammenschlüssen dargestellt. Besonderes Augenmerk gilt dem Verhältnis von parochialen und nichtparochialen Formen. Die Kirche der Zukunft wird als Netz von Gemeinden an kirchlichen Orten gesehen, eine (größere) Pluralität und Flexibilität der Gemeinden gefordert und die Dominanz des Parochialsystems kritisch beurteilt. Welche Organisationsform der Kommunikation des Evangeliums am besten dient, ist eine der spannendsten kirchentheoretischen Fragen, zu deren Diskussion die Vf. viele Argumente pro und contra Ortsgemeinde liefern, ohne dass damit das letzte Wort gesprochen ist.
Kapitel 5 untersucht das Verhältnis von Mitgliedschaft und Kirchenbindung aus der Perspektive der Mitglieder hauptsächlich aufgrund der EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen. Die Vf. folgen dem in der deutschen Praktischen Theologie verbreiteten Urteil, ein distanziertes Verhältnis zur Kirche sei »die gegenüber einer Institution und Großorganisation in der Moderne unausweichlich vorherrschende Form« der Bindung (356). So richtig das als Zustandsbeschreibung ist, so fragwürdig ist es als Zielangabe. Bemühungen um mehr Verbindlichkeit werden kritisch gesehen. Initiativen zur Gemeindeentwicklung geraten unter den Verdacht, die distanzierten Mitglieder abzuwerten. Andererseits sprechen die Vf. sich für die »Wertschätzung und Förderung veränderungsfä­higer Kirchenbeziehung« aus (356), was das Ziel einschließen sollte, dass distanziertes Verhalten sich zu aktiver Partizipation verändert. Indem das 6. Kapitel die Verflochtenheit von Partizipation und Leitung und die spezifischen Möglichkeiten der unterschiedlichen Akteure bedenkt, wird eine positive Antwort nahegelegt.
Das Buch breitet eine Fülle von Material aus, das vielfältige An­regungen enthält, den Zustand und die Aufgaben der Kirche unter empirischen und theologischen Aspekten zu bedenken. Dabei setzen die Vf. durchweg die Situation der westdeutschen Gliedkirchen der EKD voraus. Vereinzelt weisen sie auf die stark abweichende Lage der ostdeutschen Gliedkirchen hin, ziehen daraus aber keine Konsequenzen. Überlegungen zur Kirche in der Diaspora und die entsprechende Literatur bleiben unbeachtet, obwohl die EKD zutreffend als »ein religiöser Sonderfall« (46) gesehen wird. Trotz des extremen Mitgliederverlustes wird für die östlichen Gliedkirchen am Begriff der Volkskirche mit der Begründung festgehalten, es sei kein quantitativer, sondern ein qualitativer Sachverhalt. Daran ist richtig, dass der Weg in die Minderheit die Qualität des Mitgliederverhaltens nicht wesentlich verändert hat. Durch die Schrumpfung wurde aus der Volkskirche keine Freikirche.
Das Priestertum aller Glaubenden, das die Vf. in seiner hohen Bedeutung hervorheben, lebt in den Freikirchen, die nicht angemessen gewürdigt werden, kräftiger als in den Landeskirchen. Wie es in Letzteren stärker zur Wirkung kommen kann, wird die Kirchentheorie mehr als bisher beschäftigen müssen. Dafür geben Publikationen, die von den biblisch bezeugten Charismen ausgehen, wichtige Impulse, die nicht aufgenommen werden. Die Konzepte des Gemeindeaufbaus zielen darauf, dass das Allgemeine Priestertum in den Gemeinden und durch sie in der Welt wirksam wird. Fritz Schwarz kritisierte die Volkskirche in fragwürdiger Weise, doch als Superintendent von Herne favorisierte er keineswegs den Aufbau von Gemeinden außerhalb der Landeskirche (gegen 106), und die Konzepte des missionarischen Gemeindeaufbaus der 1980er Jahre standen weder in der Tradition Emil Sulzes noch fungierten sie als Gegenmodelle zur modernen Gesellschaft.
Im Zeitalter des Internets ist die Frage nach dem Vorrang von parochialen oder nichtparochialen Gemeindeformen anachronis­tisch. Die Bedeutung der Face-to-face-Beziehungen wird allerdings durch die elektronischen Medien nicht gemindert, vielleicht sogar erhöht. Der Verzicht auf das flächendeckende Prinzip (vgl. 306) würde Verzicht auf die Nähe zu den Menschen bedeuten. In be­drängender Weise zeigt sich dieses Problem in den stark entkirchlichten und unter Bevölkerungsschwund leidenden ländlichen Gebieten der ostdeutschen Gliedkirchen. Es ist zu wünschen, dass weitere Arbeiten zur Kirchentheorie sich intensiver damit befassen.