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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1095–1097

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Senior, Donald P. [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Gospel of Matthew at the Crossroads of Early Christianity.

Verlag:

Leuven u. a.: Uitgevererij Peeters 2011. XXVIII, 781 S. = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 243. Kart. EUR 88,00. ISBN 978-90-429-2522-9.

Rezensent:

Ulrich Luz

Der stattliche Band enthält die Vorträge, die am 58. Colloquium Biblicum Lovaniense (29–31 Juli 2009) gehalten wurden. In seinem ersten Teil stehen alle zehn Hauptvorträge und vier Seminarvorträge, in seinem zweiten Teil eine Auswahl aus den kürzeren Beiträgen, welche von den Teilnehmenden als »short offered papers« präsentiert wurden, im Ganzen 21 kürzere Studien zu verschie-denen Themen und Texten. Das Colloquium Biblicum Lovaniense existiert seit 1949. Es steht immer unter einem Sachthema, das oft abwechslungsweise aus dem Alten und dem Neuen Testament gewählt wird. Das Matthäusevangelium war das letzte Mal im Jahre 1970 Thema des Kolloquiums; der Konferenzband jenes Kolloquiums wurde von M. Didier 1972 herausgegeben (M. Didier [Hrsg.], L'évangile selon Matthieu. Rédaction et Théologie [BEThL 29], Gembloux 1972). Sein inhaltlicher Schwerpunkt lag auf der Traditions- und Redaktionsgeschichte und damit auf den Texten. Der jetzt vorzustellende neue Band hat eher einen historischen und zugleich religions- und theologiegeschichtlichen Schwerpunkt. Er fragt weniger nach den Texten als nach den hinter ihnen stehenden Gemeinden. Diese stehen am »Scheideweg« bzw. im Übergang oder im »Schnittpunkt« zwischen ganz verschiedenen, das Frühchris­tentum prägenden, sich aber teilweise überschneidenden »Welten«: Sie verstehen sich als Teil, ja Zentrum Israels und zugleich als Teil der sich langsam herausbildenden, von ihm immer deutlicher sich unterscheidenden, überwiegend aus ehemaligen Heiden be­ stehenden Kirche. Sie scheinen torahtreu zu sein und bewegen sich doch immer deutlicher in Richtung auf die heidnische Welt. Donald Senior, der zum ganzen Band auch eine sehr hilfreiche Einführung beigesteuert hat (XIII–XXVII), skizziert in seiner presidential address unter dem Titel »Matthew at the Crossroads of Early Christianity: An Introductory Assessment« (3–24) die Überschneidungen, Berührungspunkte und Gegensätze zwischen diesen unterschiedlichen Welten und weist hin auf das Christusbild der matthäischen Ge­meinden, das die Unterschiede und zugleich die Brücken zwischen den matthäischen Gemeinden und ihren Welten verdeutlicht und sie auf ihren Wanderungen in unterschiedlichen Welten leitet und zusammenhält.
Manche der folgenden Hauptreferate beschäftigen sich mit diesen unterschiedlichen »Welten« des Matthäusevangeliums. Ich kann aus Raumgründen nur wenige herausheben: Das Verhältnis der matthäischen Gemeinden zum Judentum ist das Thema mehrerer Aufsätze. Hier hat sich die Forschungslage in den letzten 20 Jahren drastisch geändert: Die früher verbreitete These, dass das MtEv ein heidenchristliches Evangelium gewesen sei, ist heute fast völlig verschwunden. Bei der heiß diskutierten Frage, ob die matthäischen Gemeinden noch als Teil des Judentums anzusehen seien oder sich bereits von ihm gelöst haben, neigt sich heute die Waagschale eher der ersten Möglichkeit zu. Als Beitrag zu dieser Diskussion war für mich die Studie von Christopher Tuckett (»Matthew: The Social and Historical Context – Jewish Christian and/or Gentile?«; 99–130) lehrreich. Seine These lautet: Es ist zwar unbestreitbar, dass der Evangelist den »jüdischen« Charakter der Ge­schichte und Botschaft Jesu betont; es ist aber weit weniger sicher, ob er selber oder seine Gemeinden ihr »Judentum« auch praktizierten. Besonders auffällig ist, dass diejenigen toroth, die heute immer wieder als Juden von Nichtjuden unterscheidende identity markers bezeichnet werden (Sabbat, Speisegesetze, Be­schneidung etc.), für die matthäischen Gemeinden eine geringe oder gar keine Bedeutung hatten. Tendenziell anders betont Matthias Konradt in seiner Studie zur »Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium« (131–158), dass das Matthäusevangelium Jesu Auslegung des Willens Gottes immer wieder explizit auf den Dekalog zurückbezieht und ihn ins Zentrum rückt. In Übereinstimmung mit manchen jüdischen Strömungen (Philo, TestXII etc.) ist für Jesus der Dekalog Inbegriff und Zentrum des Gotteswillens und nicht bloß Grundlage eines ethischen Minimalkonsenses mit Ju­den (und anderen). Die Studie von Wolfgang Kraus »Zur Ekklesiologie des Matthäusevangeliums« (195–240) ist im Wesentlichen eine forschungsgeschichtliche tour d'horizon durch die neueste Matthäusforschung, die ihn von der Grundthese seines Göttinger Lehrers Ulrich Luz, wonach das Mat­thäusevangelium die trauma­tischen Erfahrungen des Scheiterns der Israelmission und der Trennung von den Synagogen verarbeite, ein gutes Stück abrücken lässt.
Die Verwurzelung des Matthäusevangeliums im Judentum ist wohl auch ein Grund, weswegen Kraus nicht von der »matthä­ischen Ekklesiologie« spricht, sondern nur von »Aspekten matthä­ischer Ekklesiologie« (202): In der Situation des sich Überschneidens und Überlappens verschiedener »Welten« kann der Evangelist m. E. noch keine in sich ge­schlossene »Ekklesiologie« entwerfen; eine solche gibt es erst aspektweise; sie ist in statu nascendi. Einen wichtigen Gedanken enthält der Aufsatz von Elian Cuvillier über die Konstruktion der Mission im Matthäusevangelium (159–176). Da der Prozess des »Auseinandergehens der Wege« ein langer, erst im späten 2. Jh. abgeschlossener Prozess war, in den die matthäischen Ge­meinden in ihrer Frühgeschichte eingebettet sind, möchte Cuvillier in seiner Matthäusinterpretation nicht von Stellen ausgehen, in denen gegensätzliche Positionen aufeinanderprallen (z. B. Mt 10, 5 f.; Mt 28,19 f.), sondern von anderen Stellen, z. B. von Mt 1,21 und 28,19 f.: Hier kann man nicht von einem »Bruch« sprechen, sondern eher von einer »Erweiterung« und »Verschiebung« der Perspektive, die von den Akteuren wohl als kontinuierliche Entwicklung wahrgenommen wird. Cuvillier spricht von »déplacement« im Unterschied zu »conversion« (160).
Ich breche hier ab. Andere Studien im ersten Teil des Buches behandeln andere Schwerpunkte und Texte, aber oft in sehr enger Beziehung zur zentralen Frage dieses Bandes, der Frage nach dem »Wandern« der matthäischen Gemeinde »zwischen den Welten« des Judentums und des sich herausbildenden Christentums. Zu nennen sind etwa die Studien von Camille Focant über die matthäische Christologie (73–98), von Amy-Jill Levine über das matthäische Bild der Synagogen und ihrer Führer (177–194), von Daniel Marguerat über Grundansätze matthäischer Ethik (241–262), von Huub van de Sandt über Mt 11,28–30 (313–333), von Gérard Claudel über Joseph als »Modellleser« (339–374) oder von Christoph Heil über Mt 5,5 (389–417). Aber in diesen Studien überwiegt der Eindruck der Fülle und des Reichtums verschiedener Themen und Fragestellungen; es lässt sich eben in einem solchen Kongressband nicht alles an eine einzige Grundfrage »anhängen« – zum Glück!
Vollends ertrinkt man in der Fülle, wenn man sich den 21, fast 300 Buchseiten füllenden »short papers« zuwendet. Ihre Lektüre war für mich – gelegentlich – anregend und führte mich zu neuen Einsichten; manchmal war sie aber auch langweilig und ließ mich – gelegentlich – den Kopf schütteln. Auf Einzelbeiträge eingehen kann ich aus Raumgründen nicht. Eine Frage an die Herausgeber aber bleibt: Mussten sie wirklich alle gedruckt werden? Müssen solche Konferenzbände immer dicker werden? Gewiss: Es ist – zumal für jüngere Kolleginnen und Kollegen – wichtig und karrierefördernd, dass sie publizieren können. Es muss aber auch Menschen geben, die das Publizierte lesen können und wollen; und es muss Kollegen und Bibliotheken geben, welche so dicke und trotz aller Anstrengungen des Verlags nicht ganz billige Bände bezahlen können. Wäre hier weniger vielleicht mehr gewesen? Das ist jedenfalls meine Meinung.