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Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

489–492

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Broek, Roelof van den, and Wouter J. Hanegraaff [Ed.]

Titel/Untertitel:

Gnosis and Hermeticism from Antiquity to Modern Times.

Verlag:

Albana: State University of New York Press 1998. X, 402 S. m. Abb. gr.8 =SUNY Series in Western Esoteric Traditions. Kart. $ 24.95. ISBN 0-7914-3611-X.

Rezensent:

Holger Strutwolf

Gnosis und Hermetik, zwei eng miteinander verwandte spätantike religiöse Bewegungen, haben eine weitreichende Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart hinein gehabt. Wenn man auch die These von Gilles Quispel von einer durchgehenden unterirdischen gnostischen (oder hermetischen) Traditionslinie in der Geistesgeschichte nicht unbedingt teilen muß, so sind auch schon die vielen einzelnen Rezeptionsphänomene beider Bewegungen, die sich historisch nachweisen lassen, beeindruckend genug. Ihnen geht die hier vorzustellende Aufsatzsammlung nach. Hierbei steht der Anspruch im Hintergrund, mit der Darstellung des Weiterwirkens von Gnosis und Hermetik in der Geschichte unseres Kulturkreises sozusagen "die dritte Komponente" der westlichen Kultur, die diese neben griechischer Rationalität und biblischem Glauben geprägt hat, zu rekonstruieren.

Sowohl der Gnosis als auch der Hermetik wird dabei in Abgrenzung von Glaube und Philosophie das gemeinsame Kennzeichen zugesprochen, daß sie "die Bedeutung der inneren Erleuchtung oder Gnosis" betonten, "eine revelatorische Erfahrung, die meistens sowohl eine Begegnung mit dem eigenen wahren Selbst als auch mit dem Grund des Seins, Gott, beinhaltete." (Preface, VII).

1. Den Ausgangspunkt der Darstellung bildet der Aufsatz Gnosticism and Hermetism in Antiquity. Two Roads to Salvation von Roelof van den Broek (1-20), der um die für das Ganze grundlegende Begriffsbestimmung beider Phänomene und ihrer Unterscheidung voneinander kreist. Die Definition von Gnosis (aber - wie sich hier zeigt - auch von Hermetismus) ist ja bekanntlich von notorischer Schwierigkeit und kann darum auch in diesem Beitrag nur näherungsweise geleistet werden. Es wird einmal die Nähe beider religiöser Phänomene zueinander konstatiert: Beide sind "Offenbarungsmysterien" und "Erlösungsreligionen", in denen die Erlösung der Seele von den Fesseln des Leibes und die Rückkehr zu ihrem göttlichen Ursprung angestrebt wird. Mittel zur Erlösung ist jeweils die "geistige Erkenntnis" (Gnosis) über die transzendente Herkunft und den göttlichen Charakter der Seele, ihr Ziel jeweils die Wiedervereinigung des wahren Selbst des Menschen mit Gott (6). Danach werden anhand der Themen "Gott", "Welt", "Mensch" und "Mythologie" die Unterschiede zwischen Gnosis und Hermetik thematisiert. Gerade in der Bestimmung der Differenz zeigt sich allerdings die Schwierigkeit der eindeutigen Abgrenzung beider Phänomene voneinander: Zwar kennt die Äonenspekulation der Gnostiker keine Entsprechung in den hermetischen Schriften, sie tritt aber teilweise in bestimmten gnostischen Texten (wie z. B. dem Rheginosbrief) ebenfalls ganz in den Hintergrund. Auch in der Frage nach dem Kosmos ist der gnostische Dualismus, der in seiner radikalen Form (der Ableitung der Welt vom bösen Gegenprinzip) der Hermetik sicher fremd ist, u. a. in den valentinianischen Texten stark herabgemindert. Auch bei den Valentinianern gilt der Demiurg nämlich nicht als böse und kann die Welt als Abbild der göttlichen Welt angesehen werden. Auf der anderen Seite kommen bestimmte Äußerungen in hermetischen Schriften (wie im von van den Broek zitierten Passus CH VI,2, wo der Kosmos als Fülle des Lasters der Gottheit, die die Fülle des Guten darstellt, entgegengesetzt wird), der gnostischen Weltablehnung sehr nahe. Es hat also, wie der Vf. selbst einräumt, viele Zwischenformen und Übergänge zwischen beiden Phänomenen gegeben, die eine präzise Abgrenzung von Gnosis und Hermetismus als schwierig erscheinen lassen.

2. Jean-Pierre Mahé beschäftigt sich in Gnostic and Hermetic Ethics (21-36) mit dem Libertinismusvorwurf, den die Kirchenschriftsteller seit Irenaeus immer wieder gegen die Gnostiker erhoben haben, und kommt nach einer Darstellung der gnostischen und der damit eng verwandten hermetischen Einstellung zu ethischen Fragen zu dem Ergebnis, daß dieser Vorwurf höchstwahrscheinlich unzutreffend ist. Wenn der Vorwurf einer gnostischen "Doppelmoral" auch darin ihren Anhalt haben konnte, daß nach Ansicht der Gnostiker wie auch der Hermetiker für die zu höherer spiritueller Reife gelangten Mysten andere Moralmaßstäbe als für die anderen Menschen gelten sollen, so führte eine solche Anpassung der ethischen Richtlinien an die Existenz eines Erleuchteten keineswegs zu libertinistischen Folgerungen, sondern eher zu einer Vertiefung und Sublimierung der ethischen Prinzipien.

3. Johannes van Oort, Manichaeism: Its Sources and Influences on Western Christianity (37-51) bietet eine kurze instruktive Einführung in die Ursprünge des Manichäismus anhand des kurz vor 1970 entdeckten Kölner Mani-Kodex und einen Überblick über die Grundzüge des manichäischen Mythos, dem sich eine - leider allzu knappe - Skizze der Nachwirkung der manichäischen Lehre bei dem vom Manichäismus zur katholischen Kirche bekehrten Augustin anschließt.

4. Dem berühmten Evangelium der Wahrheit ist der Aufsatz A Christian Gnostic Text: The Gospel of Truth (53-68) von Jan Helderman gewidmet. Hier wird erneut der Versuch unternommen, die von den Erstherausgebern dieser Nag-Hammadi-Schrift vorgenommene und in der Forschung stark angezweifelte Zuweisung dieser valentinianisch-gnostischen Homilie an Valentin selbst zu stützen. Zu diesem Zweck setzt sich der Verfasser mit den Argumenten von Christoph Markschies auseinander, der einmal darauf hingewiesen hat, daß an der entscheidenden Stelle bei Irenäus in Adversus haereses III 11,9 eindeutig nicht der Lehrer Valentin, sondern seine Schüler (Hi vero qui sunt a Valentino) als Verfasser des Evangelium Veritatis bezeichnet werden, zum anderen mit inhaltlich-theologischen Argumenten die Verfasserschaft Valentins zurückgewiesen hat. Allerdings ist m. E. die Argumentationsbasis mit der Übereinstimmung zwischen dem Fragment 4 Valentins ("Denn wenn ihr die Welt auflöst, euch selbst aber dabei nicht auflöst, so seid ihr Herren über die Schöpfung und über das ganze Verderben"), der berühmten valentinianischen Formel in Adv. haereses I 21,4 ("Denn da durch die Unwissenheit Mangel und Leiden entstanden, wird das gesamte System, welches seinen Ursprung in der Unwissenheit hat, durch Erkenntnis aufgelöst") und dem Evangelium Veritatis 24,28-25,19, wo ebenfalls von der Auflösung der aus der Unwissenheit entstandenen materiellen Welt durch das Wissen die Rede ist, recht schmal. Unbestreitbar ist die große Nähe des Passus aus dem Evangelium Veritatis zu der allgemein valentinianischen Formel bei Irenäus. Aber da die Nähe zum Valentin-Fragment allein in der Vorstellung von der Auflösung des Kosmos besteht (ohne Bezug auf die Erkenntnis), kann m. E. mit diesen Texten allein der valentinianische Charakter des Evangeliums der Wahrheit aufgewiesen werden, kaum aber die Urheberschaft Valentins selbst.

5. Gilles Quispel geht in The Asclepius: From the Hermetic Lodge in Alexandria to the Greek Eucharist and the Roman Mass (69-77) der Vorgeschichte des Sanctus der griechischen und der römischen Messe in gnostischen und hermetischen Zirkeln nach. Er spannt wieder einmal einen eindrücklichen wirkungsgeschichtlichen Bogen von der Antike bis in die Gegenwart.

6. Jean-Pierre Mahé, A Reading of the Discourse on the Ogdoad and the Ennead (Nag Hammadi Codex VI.6) (79-85) interpretiert diesen Text vor dem Hintergrund der hermetischen Mythologie, wie sie sich im Poimandres niedergelegt findet.

7. Entgegen der gegenwärtigen Tendenz, den Katharismus im Rahmen der Armutsbewegung des Mittelalters als ein rein innerwestliches Phänomen zu verstehen, das sich hinlänglich aus dem Widerstand gegen die Verweltlichung der Kirche ableiten läßt und das seine eigentümlichen Ideen aus einer eigenständigen und eigenwilligen Lektüre des Neuen Testaments gewonnen habe, votiert Broek in The Cathars: Medieval Gnostics? (87-108) für eine Ableitung zentraler Vorstellungen der Katharer aus östlichen Wurzeln. Diese sind aber nicht allein gnostisch, sondern auch messalianisch. Hierbei sei der gnostische Rahmen des Weltbildes mit nichtgnostischen Elementen einer messalianischen Pneumatologie verbunden worden.

8. Antoine Faivre, Renaissance Hermeticism and the Concept of Western Esotericism (109-123) liefert nach einer begrifflichen Unterscheidung von Hermetismus, der auf das antike Corpus hermeticum beschränkt ist, und Hermetizismus, der als weiterer Begriff eine Vielzahl verwandter Phänomene umfaßt, die man mit dem modernen Begriff der "Esoterik" gleichsetzen kann, einen kurzen historischen Überblick über die Geschichte des Renaissance-Hermetizismus und schließt daran eine religionsphänomologische Bestimmung des Esoterischen an, die auf vier konstitutiven Elementen fußt. Alles esoterische Denken beruht demnach auf den Ideen der (1) "Korrespondenz" (der Vorstellung, daß Entsprechungen und Analogien den gesamten Kosmos durchziehen); der (2) Vorstellung von der Lebendigkeit der Natur, (3) von Imagination und Mediation als Erkenntnismitteln und schließlich (4) der Erfahrung der Transmutation, nach der Personen und Teile der Natur einer Veränderung ihres Seins selbst unterliegen können.

9. Cees Leijenhorst stellt in Francesco Patrizi’s Hermetic Philosophy (125-146) den imposanten, wenn auch gescheiterten Versuch des kroatisch-venetianischen Philosophen Francesco Patrizi (1529-1597 n.Chr.) dar, die hermetischen Lehren des Corpus hermeticum anstelle der aristotelisch-scholastischen Philosophie zum philosophischen Fundament der christlichen Theologie zu machen.

10. Karen-Claire Voss, Spiritual Alchemy: Interpreting Representative Texts and Images (147-181) interpretiert die Alchemie als eine vitale und dynamische Aktualisierung des menschlichen Geistes, wobei sie nicht so sehr eine historische als eine systematisch-holistische Beschreibung des Phänomens vorschlägt, die dann am Beispiel einiger ausgewählter alchemistischer Texte illustriert wird. Alchemie erscheint dabei nicht allein als ein "vorwissenschaftlicher" Versuch, materielle Verwandlungen technisch zu bewerkstelligen, sondern primär als eine bestimmte religiöse Selbst- und Welterfahrung.

11. Joscelyn Godwin, Music and the Hermetic Tradition (183-196) beschäftigt sich mit den Einflüssen der hermetischen Tradition auf Theorie und Praxis der Musik. Hierbei zeigt sich, daß sich kaum spezifisch "hermetische" Einflüsse in der Musikgeschichte nachweisen lassen.

12. Dagegen kann Roland Edighoffer in Hermeticism in Early Rosicrucianism (197-215) einen deutlichen Einfluß hermetischer Schriften und Vorstellungen auf die Rosenkreuz-Schriften, jener fingierten Gründungsurkunden des fiktiven Rosenkreuzerordens, deren Autor aller Wahrscheinlichkeit nach Johann Valentin Andreae war, nachweisen. Der belesene und höchstwahrscheinlich auch mit dem antiken Corpus hermeticum vertraute Andreae wollte seine von ihm angestrebte "universelle Reformation", die die lutherische Reformation vollenden sollte, ähnlich wie Francesco Patrizi den Katholizismus, auf der Basis der hermetischen Philosophie begründet wissen.

13. Einen instruktiven Überblick über die Hauptgestalten der theosophischen Literatur des 17. bis 18. Jahrhunderts bietet dann Arthur Versluis, Christian Theosophic Literature of the Seventeenth and Eighteenth Centuries (217-236), ein Überblick der deutlich werden läßt, wie viel auf diesem weiten Feld zwischen Jakob Böhme und Franz von Baader für die weitere wissenschaftliche Forschung noch zu tun bleibt.

14. Auch Hanegraaff geht (wie Karen-Claire Voss in Beitrag 10) in seinem Beitrag Romanticism and the Esoteric Connection (237-268) das Verhältnis von esoterischer Tradition und der Romantik nicht von einem historischen, sondern von einem systematischen Standpunkt aus an. Den Ausgang der Darstellung bildet dabei ein Forschungsbericht, in dem die wichtigsten Beiträge verschiedener Autoren (Arthur O. Lovejoy, René Wellek, Morse Peckham, M. H. Abrams, Ernest Lee Tuveson) zur Bestimmung des Begriffs Romantik diskutiert werden. Als Resultat dieses Überblicks hält Hanegraaff dann drei Charakteristika der Romantik (Organizismus, Imagination und Temporalismus) fest und stellt sie den vier wesentlichen Merkmalen gegenüber, die Antoine Faivre zur Wesensbestimmung des Esoterischen herausgearbeitet hat, um das Verhältnis von esoterischer Tradition und Romantik zu erhellen: Während dabei der Organizismus und die Imagination als in der esoterischen Tradition verankert erscheinen, ist das Moment des Temporalismus demgegenüber das neue Element, das gegenüber der esoterischen Tradition heterogen ist und aus rein modernen Wurzeln abgeleitet zu sein scheint. Dieses "neue" Element führte aber zu einer grundsätzlichen Neuinterpretation der auf das Ewige und Bleibende ausgerichteten esoterischen Tradition.

15. Eine der interessantesten Gnosisrezeptionen der Neuzeit beschreibt Jos van Meurs in dem Aufsatz William Blake and His Gnostic Myths (269-309). Dieser zu Lebzeiten (1757-1827) kaum beachtete Malerpoet, der heute als einer der bedeutendsten englischen Lyriker gilt, entwarf in seinen Gedichten, die er mit Illustrationen auf - da seine Werke zu Lebzeiten keinen Drucker fanden - Kupferplatten ritzte und danach per Hand colorierte, eine fremde und bizarre gnostische Bilderwelt. Als Quellen seines gnostischen Weltbildes lassen sich die Werke Jakob Böhmes, aber auch die zu seiner Zeit gut zugänglichen hermetischen Schriften, sowie die Darstellungen der gnostischen Systeme in den kirchengeschichtlichen Werken von Joseph Priestley und Johann Lorenz Mosheim, dessen Kirchengeschichte im Jahre 1765 ins Englische übersetzt worden war, angeben.

16. Daniel van Egmond, Western Esoteric Schools in the Late Nineteenth and Early Twentieth Centuries (311-346) rekonstruiert die Erfahrungsdimension der esoterischen Bewegungen der Jahrhundertwende, die bemüht waren, esoterische "Schulen" zu bilden und so etwas wie eine nachvollziehbare "Empirie" des Okkulten zu etablieren.

17. In ihrem zweiten Beitrag Stockhausen’s Donnerstag aus Licht and Gnosticism (347-358) geht Joscelyn Godwin dem Einfluß esoterisch-gnostischer Traditionen in dem musikalisch wie inhaltlich hochkomplexen Opernzyklus "Licht" nach.

18. Hanegraaff, The New Age Movement and the Esoteric Tradition (359-382) schließlich unternimmt den Versuch, das Verhältnis von traditioneller Esoterik und der New Age Bewegung historisch aufzuhellen. Das Verhältnis von Tradition und ihrer Neuinterpretation in der New-Age-Philosophie wird von Hanegraaff mit dem Begriff der "säkularisierten Esoterik" pointiert beschrieben, weil die traditionellen esoterischen Vorstellungen in einem grundsätzlich modernistischen und säkularen Deutungsrahmen (instrumentelle Kausalität, Evolutionismus und Psychologie) reinterpretiert werden. Dabei erweist sich die New Age Bewegung bei allem Rückgriff auf die esoterische Überlieferung dennoch als genuin "modernes" Phänomen, das außerhalb des Rahmens der gegenwärtigen westlichen Kultur nicht verstanden werden kann.

Da ausgewiesene Spezialisten in dieser Aufsatzsammlung die wichtigsten Stationen der Wirkungsgeschichte von Gnosis und Hermetismus auf dem Stand der gegenwärtigen Forschungsdiskussion vorstellen, ist der Band so etwas wie ein "Handbuch" zu Wesen und Weiterwirkung von Gnosis und Hermetik geworden. Ein Buch, das wegen seiner guten Lesbarkeit und wegen seines Einführungscharakters nicht allein die Fachgelehrten, sondern auch alle an der Geschichte der Esoterik Interessierten gerne zur Hand nehmen werden.