Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2013

Spalte:

1021–1023

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hoffmann, Martin

Titel/Untertitel:

Ethisch und politisch predigen. Grundlagen und Modelle.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 218 S. m. Abb. = Gemeindepraxis, 4. Kart. EUR 16,80. ISBN 978-3-374-02851-1.

Rezensent:

Volker A. Lehnert

Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Dieses Buch aus der Feder des Homiletikdozenten Martin Hoffmann muss man lesen – greift es doch ein in der evangelischen Homiletik hochsensibles und immer wieder vom Missverständnis vermeintlicher Gesetzlichkeit umnebeltes Thema auf: die ethische Predigt, für H. ein »Stiefkind« der Homiletik, das ein »Aschenputtel-Dasein« (11) fristet. H. geht aus von der 2. Barmer These, die »Gottes kräftigen Anspruch auf unser ganzes Leben« artikuliert. Thema der ethischen Predigt ist das »Leben der Glaubenden als neue Schöpfung« (14). Ihre Aufgabe be­steht darin, »das Evangelium von Jesus Christus als Befreiung und Hilfe zu einer gelingenden Lebensführung zu vermitteln« (15), ein Unterfangen, das stets von der Gefahr der Gesetzlichkeit bedroht ist. Gesetzlich ist für H. – dabei M. Josuttis folgend – eine Predigt, die »zu nichts verhilft« und die »nichts schenkt« (25) und die »dem Hörer das zum Verwirklichen auf die Schultern lädt, was Gottes Werk und Sache ist« (18). Nicht das Ringen um den konkreten Willen Gottes und der Versuch von dessen Artikulation ist gesetzlich, sondern die »Ideologisierung und Funktionalisierung des Evangeliums«, die »Moralisierung des Gesetzes« sowie die »Überforderung in der Paränese« (19). Ein Christus, der nichts mehr schenkt (sacramentum), sondern nur noch Nachahmung fordert (exemplum), ist der Vergesetzlichung erlegen. Kurz: Gesetzlichkeit entsteht, wo das Handeln Gottes selbst aus dem Blick gerät.
Dafür benennt H. zwei Ursachen: erstens die Geistvergessenheit, die die Rechtfertigung dem Handeln Gottes (Gabe), die Heiligung aber allein dem Handeln des Menschen (Aufgabe) zuschreibt. Demgegenüber ist mit H.-J. Iwand auch die Heiligung als Gabe Gottes aufzufassen. Ethische Paränese redet dann weniger vom »Sollen« des Menschen als von seinem »Können« (27). Die zweite Ursache ist die Zeitvergessenheit, die die neue Zeit nicht qualitativ als Neuwerdung im Jetzt auffasst, sondern das Evangelium linear in die Vergangenheit verbannt und das Heil in der Zukunft verortet. Demgegenüber will der Heilige Geist das Leben in der Gegenwart nach den Maßstäben des Reiches Gottes neu gestalten. Der getaufte Mensch ist dabei nicht aufgefordert aus eigener Kraft neu zu werden, sondern sein Neu-geworden-Sein zu entdecken. Ethische Predigt ist daher »eher ein Entdeckungsvorgang« (32) als ein Appell: »Die ethische Predigt hat als erstes das Verschränktsein meiner Zeit mit Gottes Zeit indikativisch zu bezeugen« (33).
Die Grundlegung ethischer Predigt besteht in der Transformation der Kantschen Frage »Was sollen wir tun?« in: »Wer sollen wir sein?« (34). H. zieht zur weiteren Veranschaulichung das Modell der ethischen Pyramide heran: Ethik im Sinne einer Verantwortungsethik basiert zunächst auf einer neuen Wirklichkeitswahrnehmung (in Christus versöhnte Welt), entwickelt daraus ethische Grundhaltungen (Gott Wohlgefälligkeit Röm 12,2), formuliert daraufhin Normen bzw. Kriterien (Liebe Mt 2,37–39) und sucht erst dann nach angemessenen Verhaltensweisen (konkrete Appelle). Die biblische Grundlegung dieses Modells findet H. in Röm 12–15. Im Folgenden unterscheidet er drei Modelle ethischer Predigt:
1. Die narrative ethische Predigt artikuliert im Wesentlichen ethische Grundhaltungen. Sie bedient sich der Erzählung. H. stellt sie – neben einigen erzähltheoretischen Erwägungen – im An­schluss an H. Weders Hermeneutik an Mt 25,14–30 dar. Das Gleichnis spricht den dritten Knecht eben nicht darauf an, was er »in Wirklichkeit«, sondern was er »in Wahrheit« ist (58), und genau daraufhin nimmt Jesus ihn in Anspruch. Er soll nicht etwas werden, was er nicht sein kann, sondern er soll werden, was er bereits ist.
2. Die argumentative ethische Predigt hat dort ihren Ort, wo keine verbindliche Autorität mehr vorausgesetzt werden kann, wo etwas strittig ist oder wo das zeitkritische Potential des Evange­liums zur Sprache gebracht werden soll. Argumentation bietet entweder neue Fakten oder neue Perspektiven auf Bekanntes. Ar­gumentation vollzieht sich auf Augenhöhe und verzichtet auf jeg­lichen Zwang; sie bleibt aber auf den Heiligen Geist angewiesen, um Überzeugungen zu ändern und ethische Urteilsbildungen anzuregen. Sie setzt zwar auf Nachvollziehbarkeit, überlässt aber das »Einverständnis der Hörer getrost Gott« (105). Ihre Zielsetzung ist weniger die Problemlösung als die Meinungsbildung.
3. Die appellative ethische Predigt bezieht sich auf Empfehlungen, Konkretionen oder Vorschläge. Sie fordert ihre Hörer und Hörerinnen »zu bestimmten Verhaltensweisen« auf (116). Genau deshalb unterliegt sie einem permanenten Gesetzlichkeitsverdacht, jedenfalls dann, wenn – was häufig geschieht – Gesetzlichkeit mit konkreter Gestaltwerdung ethischer Grundhaltungen verwechselt wird. Zu Recht betrachtet H. nochmals den Begriff der Gesetzlichkeit: Gesetzlich ist ein Appell, wenn er etwas fordert, ohne es zugleich auch zu ermöglichen. Gesetzlich ist ein Wort, das keine Hilfe für die Lebensführung enthält. Oder im Anschluss an B. Bukowski: Gesetzlich ist eine unerfüllbare ethische Weisung. Ethische Predigt ruft immer nur zur Entsprechung zu Gottes Handeln auf und niemals zur Eigenverwirklichung des Heils. Ethische Predigt darf auch nicht individualistisch enggeführt werden, sondern bleibt stets auf die Gemeinde bezogen. Der Einzelne wird immer als Glied der Gemeinde Christi angesprochen.
Schließlich reflektiert H. die politische Predigt als »Spezialfall ethischer Predigt«, die die christliche Existenz als »öffentliche Exis­tenz« betrachtet (138). Dabei versteht er unter Politik nicht in erster Linie Parteipolitik, sondern alle Vorgänge und Entscheidungen, die für die Gesellschaft kollektiv bedeutsam sind. Der öffentliche Anspruch des Evangeliums ergibt sich aus der Proklamation Jesu als des »Herrn des Lebens und der Welt« (150). Schon der historische Kyrios-Ruf war ein »öffentlicher Widerspruch zum Kyrios-An­spruch des römischen Kaisers« (ebd.). Politische Predigt artikuliert keinen Anspruch auf kirchliche Dominanz, sondern verhilft zur Vergewisserung, zur Urteilsbildung oder dringt durch ethische Appelle bis zur Spitze der ethischen Pyramide vor.
H.s Grundlegung der Ethik im Indikativ der Versöhnung, sein Denkmodell der ethischen Pyramide sowie seine differenzierte Unterscheidung von Konkretion und Gesetzlichkeit sind ein eindrücklicher und unverzichtbarer Beitrag zur gegenwärtigen Ho­miletik. Durch viele Predigtbeispiele und -analysen veranschaulicht er sein Grundverständnis ethischer und politischer Predigt. Alles in allem legt H. einen hoch lesenswerten homiletischen Band vor, dem ab sofort ein fester Platz in der theologischen Aus- und Fortbildung zukommen sollte.