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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

1007–1009

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Waldenfels, Bernhard

Titel/Untertitel:

Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2012. 437 S. = Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft, 2047. Kart. EUR 22,00. ISBN 978-3-518-29647-9.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Als Bedeutung des Begriffs ›Phänomen‹ sei, so Heidegger, »das Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare« festzuhalten. Doch schon im berüchtigten Paragraphen 7 deutet der Autor von Sein und Zeit an, dass das »Offenbare« ein kaum feststellbares phänomenales Spektrum bezeichnet, das seinerseits der prekären Dynamik von Präsenz und Entzug unterliegt (dort 40 f.). Wenn nun Bernhard Waldenfels jene Bestimmungen übertreffen will, indem ein »Hy­perphänomen« als etwas präsentiert wird, das »sich als mehr und als anders, als es ist« (9), zeigt, fragt sich, wo genau der Unterschied zu Heideggers lakonischen Analysen liegt bzw. ob nicht alle Phänomene hyperphänomenal strukturiert sind. Die Welt ist mehr, als was der Fall ist, wie selbst der späte Wittgenstein ahnte, so dass jene Welt nicht durch eine Sammlung von Einzelfällen – auch nicht über-fällig oder über-fallartig – terminiert ist.
An die Stelle terminologisch geklärter ›Hyperphänomene‹ treten zu Beginn des hier zu besprechenden Buches einige Erwägungen zum ›Hyperbolischen‹, wobei zunächst vier Bestimmungen im Zentrum stehen: Es handle sich nicht um Vorschüsse, die irgendwann eingeholt werden könnten, sondern um bleibende Überschüsse (58.74); dabei hätten wir es nicht mit exklusiven, sondern mit ganz alltäglichen Phänomenen zu tun, die über sich hinausweisen (10); sie seien im Interim von Ordnung und Außerordentlichem lokalisiert (12); und ihnen käme schließlich ein anhypostatischer Charakter zu, sofern sie nicht für sich seien, sondern »sich anderswo anlehnen, ohne anderswo zu gründen« (ebd.).
Mit einer ›hyperphänomenalen‹ Sammlung in 13 Kapiteln, die die Themen Transzendenz, Unendlichkeit, (Un)Möglichkeit, (Un-) Sichtbares, Vergessen und Erinnern, Beschreibungsweisen, Gabe und Tausch, Stellvertretung, Vertrauen, Feindschaft, Gewalt, komparative Verfahren und endlich Religion(sphänomenologie) auf das Titelthema hin sondieren, beschließt W. eine Trilogie, deren Schwerpunkt in der Organisation der Erfahrung liegt (9). Nach Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen (2009) und Sinne und Küns­te im Wechselspiel (2010) geht es nun nicht um die Arten leibhaftiger bzw. ästhetischer Erfahrung, sondern um die »Modi hy­per­-bo­lischer Erfahrung«, wie der Untertitel mitteilt. Eigentlich aber handelt es sich nicht um bestimmte Modalitäten der Erfahrung, sondern um sich thematisch teils überlappende, teils dis­krete Be­reiche unserer Erlebniswelt unter einem modalen Gesichtspunkt. W. geht in fast jedem Kapitel so vor, dass philosophiegeschicht­liche Anleihen beginnend mit der Antike über klassische Autoren des Mittelalters bis hin zu den (neo)phänomenologischen Erzvätern (vor allem Husserl, Levinas und Merleau-Ponty) mit systematischen Ambitionen zu einem problemgeschichtlichen Abriss verbunden werden. Die einzelnen Teile folgen einer lockeren, aber kaum argumentativen Reihenfolge und können separat gelesen werden, zumal sie meist überarbeitete Versionen von bereits pu­blizierten Texten bilden.
In allen Kapiteln, die entweder methodische (Deskription, Kom­paration), materiale (Vertrauen, Feindschaft, Gewalt) oder modale (Unendlichkeit, Unmöglichkeit) Schwerpunkte setzen, werden zwei langjährige Hauptinteressen des Xenologen W. an immer wieder neuen Konstellationen erprobt: die asymmetrische Relation zwischen Ordnung und Unordnung sowie die responsive Pa­thosphänomenologie. Was das Erste angeht, verweist W. zu Recht darauf, dass die hyperphänomenalen Überschüsse stets auf das bezogen bleiben, an dem der Überschuss als solcher ausweisbar ist, ohne dadurch wiederum dezimiert oder gar revidiert zu werden. Ebendies kritisiert W. wiederholt an Levinas’ Ethik der radikalen Alterität, dass sie nicht expliziert, wovon sie das absolut Andere abhebt (vgl. schon Idiome des Denkens, 308). Nur unter permanentem Rekurs auf das apollinische Ordnungsmoment könne folglich der dionysische Exzess erkenntlich sein. Dies erläutert W. etwa an der vom immanenten Gegenpol nicht ablösbaren Transzendenz (48) oder auch am Unendlichen, das sich antagonistisch zu denjenigen Erfahrungen verhält, in denen es sich erschließt (53.227). Dies kann, so W. weiter, in produktive Bewegungen und Neuordnungen münden, aber auch Dilemmata hervorbringen, wie im Fall des Vergleichs als Egalisierung des Nichtgleichen (336), bzw. des re-entry, indem Differenzen noch einmal innerhalb der Ordnung auftreten, die sie zuvor gestiftet haben (100). Stets geht es darum, jene facettenreichen (Hyper)Phänomene zwischen Präsenz und Entzug zu retten, um das Abgleiten in einen der beiden Pole zu vermeiden.
Das zweite Element, das dieses Buch durchzieht, ist das »Antwortregister«. Gemeint ist die responsorische Quelle (nicht: Grund oder Ursache), durch die es überhaupt zur Dynamik zwischen Ordnung und Außerordentlichem kommen kann. Wo Levinas (noch nahe an Heidegger) vom il y a spricht, sprengt W. die in der Hermeneutik dominierende Korrelation von Frage und Antwort, indem er von der Präsenz des sich entziehenden ›Etwas‹ ausgeht, dem wir antworten und – mit Watzlawick – nicht nicht antworten können. Antworten meint dann, »anderswo beginnen« (73) als Infragestellung der Autarkie auf Seiten des Antwortenden (95). Schon hier ist W. darauf bedacht, jenes ›Etwas‹ nicht nachträglich zu verobjektivieren. Es gibt demnach kein Etwas, das sich gibt (was an Bonhoeffers Bonmot erinnert), sondern nur etwas, indem es sich entzieht (97.111). In dieser Bewegung verhalten sich das pathische Widerfahrnis und der responsive Akt asymmetrisch zueinander, obgleich das Pathos nirgends anders ›ist‹ als in den Variationen unserer Antwort (206).
Beide Aspekte, das Außerordentliche an (nicht: jenseits) der Ord­nung und die pathosphänomenologische Devise, kommen auch im letzten, dem »dreizehnten Kapitel« (M. Walser) zur Geltung. Es bietet keinen krönenden Abschluss, wie W. selbst zu be­denken gibt (357), sondern eine weitere Studie zum Hyperphänomenalen. Allerdings darf auch hier gefragt werden, ob nicht bereits die vorherigen Abschnitte von einer theologischen Agenda leben, so dass das hyperphänomenale Element eine weitere Bestätigung jenes schon klassischen, aber genau genommen harmlosen Verdachts eines »tournant théologique de la phénoménologie« liefern würde (so D. Janicaud; hier 411).
Zur Kennzeichnung des Phänomenbestandes hält W. fest, dass nichts für sich als religiös zu gelten habe, sondern stets als solches erfahren werde (359.366). Damit ist allen Versuchen, von einer affektiven oder epistemischen Unmittelbarkeit auszugehen, eine dezidierte Absage erteilt (392). Sowohl der Rückzug auf eine Ge­fühlsreligion im Gefolge Schleiermachers als auch Jean-Luc Ma­rions Umwidmung der Phänomene in Extrakte genereller Saturierung geraten daher in die Kritik (406). Stets stehen, so W., Figuren der Vermittlung und Brechung zwischen Sein und Erfahrung: Was sich zeigt, sei nie identisch mit dem, was es sei (198). Die konstruktive Alternative einer an Pathos und Response orientierten Religionsphänomenologie liest sich wie folgt: »Das Pathos als das, wovon wir getroffen werden, verwandelt sich in etwas, worauf wir antworten. Die Umwandlung geschieht im Antworten selbst, und zwar in Form eines Bedeutens, das etwas als etwas meint, und in Form eines Begehrens, das etwas in etwas erstrebt.« (363)
Dieses Widerfahrnis sei nicht voreilig einem ontologisch di­-s­tinkten Träger zuzuordnen, wenn man die lebendige Erfahrung nicht überspringen und zu den metaphysica der theologischen Verdinglichung zurückkehren wolle (363 f.). Umgeht man diese Untiefen, lasse sich das drohende Dilemma der Religionsphänomenologie auch konstruktiv verarbeiten. Deren sehr wohl be­grenzte Ressourcen würden genau dann nicht überstrapaziert werden, wenn man sich auf den Bahnen einer Antwortlogik be­wegte, die die Präsenz des fremden Anspruchs im Außerordentlichen allein in den Antworten unsererseits erkennt (408). Entsprechend geht es nicht um eine Rückführung des Gegebenen auf dessen Sinn, wie es eine intentionale Epoché vorsehe; vielmehr gehe es einer pathischen oder responsiven Epoché darum, dem Wo­her des Getroffenseins und dem Worauf des Antwortens umsichtig nachzugehen (411; man erinnere sich an H. Braun). Dennoch werde dadurch das Dilemma der Religionsphänomenologie, die sich notwendig zwischen einer Phänomenfixierung und der Nichtphänomenalität Gottes bewegt, nicht aufgelöst. Immerhin aber, so W.s vorerst letztes Wort zur Sache, gebe es »Dilemmata und Paradoxien, deren Auflösung fataler ist, als diese selbst es sind« (412).