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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

987–988

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Fesko, John V.

Titel/Untertitel:

Beyond Calvin. Union with Christ and Justification in Early Modern Reformed Theology (1517–1700).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 416 S. m. 1 Abb. = Reformed Historical Theology, 20. Geb. EUR 98,95. ISBN 978-3-525-57022-7.

Rezensent:

Risto Saarinen

Die Rezeptionsgeschichte von Martin Luthers Unio-cum-Christo-Gedanken ist neulich z. B. von Karsten Lehmkühler (Inhabitatio, Göttingen 2004) und Olli-Pekka Vainio (Justification and Participation in Christ, Leiden 2008) untersucht worden. Tuomo Manner­maas These, dass Luther die Gegenwart Christi im Glauben »real-ontisch« versteht, hat lebendige Diskussion auch außerhalb des deutschen und skandinavischen Sprachraums hervorgebracht.
In der Calvinforschung hat insbesondere das Buch von J. Todd Billings (Calvin, Participation, and the Gift, Oxford 2007) eine le­bendige Forschungsaktivität hervorgebracht, die mit Manner­maas Thesen viel gemeinsam hat. Die vorliegende Arbeit von John V. Fesko untersucht die Rezeption des Unio-cum-Christo-Ge­dankens im frühen Calvinismus. In vielen Hinsichten verhält sich dieses Buch als komplementär zu den Studien von Lehmkühler und Vainio, aber darüber hinaus will F. zu gewissen innercalvi-nis­tischen Streitigkeiten Stellung nehmen. So behauptet er u. a., 1. dass Calvin als weniger normativ für die Entstehung der reformierten Tradition angesehen werden soll, 2. dass die unio cum Christo innerhalb einer ordo salutis zum Ausdruck kommen kann und 3. dass in der frühen reformierten Tradition die Rechtfertigung eine theologische Priorität gegenüber der Heiligung hat.
Die gründliche Arbeit behandelt zuerst das Verhältnis zwischen Metaphysik und Rechtfertigungslehre sowie den Stellenwert und die Entwicklung von Ordo-salutis-Gedanken in der frühreformier­ten Tradition. Danach wird die Vorstellung der unio cum Chris­to in der Patris­tik und Scholastik sowie bei Luther und Me­lanchthon skizzenhaft geschildert. Als Repräsentanten des frühmodernen Reformiertentums werden folgende Denker analysiert: Juan de Valdes, Heinrich Bullinger, Peter Martyr Vermigli, Girolamo Zanchi, Faustus Socinus, William Perkins, Jacob Arminius, John Owen, Richard Baxter, Francis Turretin und Herman Witsius.
Sein Calvinverständnis legt F. schon in der Einleitung im Kontext der Forschungsgeschichte dar. Es wäre trotzdem hilfreich ge­wesen, eine breitere Auslegung von relevanten Calvintexten zu bieten, vor allem weil F. einerseits die Calvinstudien von Billings und z. B. Richard Gaffin durchaus positiv anerkennt, andererseits aber Calvin zu einem nur begrenzt maßgeblichen frühreformierten Theologen erklärt. Für die Verifizierung dieser Erklärung ist es offensichtlich notwendig, die weniger bekannten Protestanten besser kennenzulernen, aber einen präzisen Vergleich mit Calvin erwartet der Leser auch in diesem Kontext.
F. will erstens zeigen, dass nur drei von den behandelten Autoren (Socinus, Arminius, Baxter) Heiligung und Rechtfertigung für gleichrangig halten. Alle anderen (sogar der Katholik de Valdes!) lehren, dass Rechtfertigung eine theologische Priorität erhält. Eine theologische Priorität setzt keine temporale Differenz voraus, sondern sie versteht sich als sachlogische Priorität: Heiligung braucht Rechtfertigung, aber nicht umgekehrt. Zweitens argumentiert F., dass im Rahmen einer solchen sachlogischen Priorität die unio cum Christo durchaus realisierbar erscheint, so dass der Glaubende die neue Seinswirklicheit und die Notwendigkeit von guten Werken und Heiligung bejahen kann, ohne die reformatorische Rechtfertigungslehre preiszugeben. In jedem Fall setzt diese Konstellation aber die theologische Priorität der Rechtfertigung voraus.
Weil die einzelnen Autoren jeweils relativ kurz und schematisch dargestellt werden und auch das Endergebnis eine bestimmte Version vom orthodoxen Calvinismus einhellig bestätigt, wird man der präsentierten Argumentation nicht im­mer widerspruchs­los folgen. Allerdings finde ich F.s Ergebnisse insgesamt zumeist einleuchtend und an sich richtig; trotz des schematischen Charakters seiner Darstellung kann F. häufig unsere Kenntnis von der reformierten Tradition bereichern.
Für die Lutherforscher ist es aufschlussreich, dass die bekannten Streitigkeiten um Luthers forensische und effektive Rechtfertigungslehre oft analog zu den innercalvinistischen Kontroversen laufen. Ich habe selber gegen einige finnische Kollegen argumentiert, dass die forensische Rechtfertigung auch innerhalb der unio cum Christo eine sachlogische Priorität erhalten kann (z. B. im Band En­-gaging Luther, ed. Vainio, Eugene 2010). Andererseits hat Sibylle Rolf (Zum Herzen sprechen, Berlin 2008) überzeugend nachgewiesen, dass Luthers Imputatio-Gedanke die effektive Seite der Rechtfertigung durchaus zulässt und sogar fördert. F.s klare und materialreiche Darstellung der calvinistischen Rezeptionsgeschichte zeigt, wie nahe verwandt Luthertum und Calvinismus letzten Endes sind.
Diese Nähe wird von F. auch dadurch unterstrichen, dass er die große Bedeutung von Luther und Melanchthon für die frühen Reformierten hervorhebt. Weil der Calvinismus sich so viel schneller als das Luthertum über die Grenzen Europas hinaus verbreitete, waren es häufig gerade die Calvinisten, die das Gedankengut von Luther missionarisch fruchtbar transformieren konnten. Die Tatsache, dass das Verhältnis zwischen Rechtfertigung und Heiligung eine bleibende Bedeutung in dieser globalen Transformation hat, stammte letzten Endes aus den früheren Kontroversen zwischen Luther und seinen Opponenten, z. B. Antinomisten. Diese Entwicklungslinie kann F. überzeugend nachzeichnen.
Von dem Stellenwert Calvins in dieser Entwicklung bin ich allerdings nicht ganz überzeugt. Wenigstens hätte F. einen noch ausführlicheren Calvin-Vergleich unternehmen müssen, um seine These »über Calvin hinaus« wirklich verifizieren zu können. Darüber hinaus sollte zwischen dem tatsächlichen historischen Einfluss und der erreichten theologischen Normativität noch sorgfältiger unterschieden werden. Trotzdem ist es für viele Leser sehr hilfreich, dass er auch die weniger bekannten reformierten Theologen zu Wort kommen lässt. F. hat die Absicht, die weitere reformierte Geschichte des Unio-cum-Christi-Gedankens bis zur Gegenwart zu erforschen. Diese Absicht ist sehr zu begrüßen.