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Ausgabe:

September/2013

Spalte:

970–971

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Nehlsen, Eberhard

Titel/Untertitel:

Berliner Liedflugschriften. Katalog der bis 1650 erschienenen Drucke der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Hrsg. v. G.-J. Bötte, A. Wehmeyer u. A. Wittenberg. 3 Bde. Bd. I: Katalog 1. Signaturengruppen Hymn. 3 – Yd 9994. Bd. II: Katalog 2. Signaturengruppen Ye 1 – Slg. Wernigerode Hb 4380. Bd. III: Register.

Verlag:

Baden-Baden: Valentin Körner 2008. XXVIII, 1226 S. m. Abb. = Bibliotheca Bibliographica Aureliana, 215, 216, 217. Lw. EUR 404,00. ISBN 978-3-87320-715-8.

Rezensent:

Johannes Schilling

Es gibt sie immer noch und immer wieder – Forscher, Idealisten, die allein, ohne institutionellen Hintergrund und ohne große öf­fentliche Förderung, Projekte auf sich nehmen, die große Arbeitsgruppen gar nicht oder nur in unverhältnismäßig langer Zeit zu Stand und Wesen bringen. Die Edition von Luthers Briefwechsel innerhalb der Weimarer Ausgabe etwa war ein solches Projekt: Der Bearbeiter Otto Clemen, im Hauptberuf Gymnasialprofessor in Zwickau, bearbeitete den gesamten Briefwechsel weitgehend al­lein, gelegentlich unterstützt durch die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft und freundliche Helfer. Er ist fertig geworden – nach Clemens Tod erschien 1948 der letzte Band der Edition. Andere Beispiele ließen sich nennen, etwa die vor dem Erscheinen stehende Melanchthon-Bibliographie des Gothaer Bib­liothekars Helmut Claus, die, nach jahrzehntelanger Arbeit, so etwas wie das ultimative Spätwerk einer Epoche zu werden verspricht.
Auch die Berliner Liedflugschriften sind das Werk eines einzigen Bearbeiters, Eberhard Nehlsen. Der Autor ist als Lehrer im Oldenburgischen tätig. Seit den Recherchen für seine Dissertation über Wilhelm von Nassau (Wilhelmus von Nassauen. Studien zur Rezeption eines niederländischen Liedes im deutschsprachigen Raum vom 16. bis zum 20. Jh. Münster 1993 [Niederlande-Studien, 4]) ist er auf der Suche nach Liedflugschriften, von den Anfängen des Buchdrucks bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Die jetzt in einem ersten Katalog erfassten Berliner Liedflugschriften sind nur ein Teil des riesigen Materials, das N. inzwischen gesammelt hat, der dreibändige Katalog der Berliner Bestände nur ein Angeld auf ein hoffentlich zustande kommendes Opus magnum, in dem sämtliche N. bekannt gewordenen Liedflugschriftendrucke aus zahlreichen europäischen Bibliotheken verzeichnet sein werden. N. rechnet mit 8000 bis 9000 noch vorhandenen Liedflugschriften, von denen er bis zum Zeitpunkt des Erscheinens des Katalogs ca. 5400 erfasst hatte. Ein solches bibliographisches Großunternehmen hat seit Langem kein Einzelner mehr unternommen, geschweige denn abgeschlossen.
In ihrer Einführung »Zum Geleit« weisen die Herausgeber darauf hin, dass ein großer Teil der beschriebenen Drucke im Jahr 1850 mit der Bibliothek des Freiherrn Karl Hartwig Gregor von Meusebach (1781–1847) in die damals Königliche Bibliothek in Berlin kam. Meusebach war ein passionierter Sammler, vor allem von deutscher Literatur des 16. und 17. Jh.s. Weitere Sammlungen kamen, vor allem im Laufe des 19. Jh.s, hinzu. Nach 1945 ist der Bestand nicht nennenswert vermehrt worden. In N. haben der alte Meusebach und seine Nachfolger nun einen ebenso passionierten Bibliographen gefunden.
Die Berliner Bibliothek hütet mit ihren 2298 erfassten Drucken von Liedflugschriften bis 1650 die »weltweit größte Sammlung deutschsprachiger Liedflugschriften« (XIII). Wie sich im Verlauf der Bearbeitung des Katalogs herausstellte, sind vom Gesamtbestand ca. 80 % (1802) Unikate, also nur in dem Berliner Exemplar be­kannte Drucke. Es handelt sich damit um einen der kostbarsten Bibliotheksbestände der älteren Jahrhunderte überhaupt. Kriegsverluste sind zum Glück gering, einige Bände gingen durch Diebstahl verloren (XV).
In seiner Einleitung umreißt N. den Bestand und nennt die Kriterien für die Aufnahme. »Liedflugschriften« unterscheiden sich von den Einblattdrucken der »Liedflugblätter«, umfassen in der weit überwiegenden Zahl (78,2 %) vier Blätter; 15,8 % haben einen Umfang von acht Blättern. Das Format ist normalerweise Oktav (91,2 %). Die Grenze hat der Bearbeiter in der Regel bei einem Um­fang von 16 Blättern gesetzt, nicht aufgenommen sind Noten­-drucke in mehreren Stimmbüchern und Gelegenheitsschriften des 17. Jh.s, die nicht für die gesamte Öffentlichkeit bestimmt waren, etwa Hochzeitslieder. Die Titelblätter nennen in der Regel die Anfänge der Lieder und die »Töne«, also die Melodien, nach denen die Lieder zu singen waren. Die Gattungen sind vielfältig: Neben Balladen gibt es Liebeslieder, aktuelle politische Lieder und eine große Zahl geistlicher Lieder. 49,3 % der Drucke enthalten nur ein Lied, 29,5 % zwei; 3,1 % sind mit Noten versehen. Die weitaus größte Zahl von Liedflugschriften erschien zwischen 1551 und 1575. Bei den Druckorten rangiert Nürnberg mit einer Gesamtzahl von 834 Drucken mit großem Abstand vor Augsburg mit 239 an der Spitze; alle anderen Druckorte produzierten im Vergleich zu diesen beiden großen nur eine geringe Anzahl an Drucken.
Der Katalog ist nach den Signaturen in der Berliner Bibliothek geordnet. Die in der Einleitung beschriebene Titelaufnahme ist akribisch vorgenommen und, soweit möglich und vorhanden, mit bibliographischen Nachweisen versehen. Spezialliteratur zu den einzelnen Stücken kann aus begreiflichen Gründen nicht verzeichnet werden. Organisation und Präzision gebieten höchsten Res­pekt.
Der Gewinn an Informationen lässt sich nach erster sporadischer Kenntnisnahme kaum ermessen. Ich wähle als Beispiel die – wenigen – Drucke aus Marburg. Von dem Erstdrucker Franz Rhode (1528–1534) gibt es einen Druck (Nr. 85), der in Dommers Bibliographie der Marburger Drucke des 16. Jh.s fehlt. Dem Drucker Andreas Kolbe (1543–1566) werden sechs Drucke zugeordnet. Ein Druck von 1549 (Nr. 129) enthält u. a. ein Gedicht auf den verstorbenen Martin Luther, das im Zusammenhang mit der Gedächtnisrede von Johannes Draconites 1546 von Interesse sein könnte; ein zweiter (Nr. 327) geistliche Lieder. In einem Druck von 1547 gibt es ein Lied über das Kreuz der Christen, von einem sonst nicht hervorgetretenen »Johannes Geise von Melsungen« (Nr. 363). 1550 erscheint ein Lied vom Ehestand eines Johann von Kaufungen (Nr. 494), 1555 fünf geistliche Lieder (Nr. 498). Zwei 1552 gedruckte Lieder auf den Landgrafen von Hessen (Nr. 1732) sind wiederum bei Dommer nicht verzeichnet.
Für die Forschung bedeutet das: Insbesondere für die Mikrohistorie wird hier eine Fülle von unerschlossenem Material bereitgestellt, das man künftig in einschlägigen Untersuchungen nicht unbeachtet lassen darf.
Der Registerband gliedert sich in Register der Liedanfänge, Tonangaben, Titel der Drucke, Verfasser, Druckorte, Drucker und Verleger I, Druckorte und Drucker II (hier handelt es sich um fingierte Angaben »sowie solche, die in den Drucken als Orte und Drucker der Vorlagen genannt werden«; 1151) sowie Personen und Stichwörter, »die auf den Titelblättern und in den Liedüberschriften erscheinen« (1155). Ein Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur und wenige Addenda & Corrigenda (1225) beschließen den Band.
Mit dem Katalog der Berliner Liedflugschriften hat die Forschung ein Instrument in die Hand bekommen, dessen Bedeutung man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Denn die Bände erschließen Quellen, die dem Zeitalter ein anderes Gesicht verleihen. Erfolgreiche Lieder sind nun einmal prägender für die Zeitgenossen als unveröffentlichte Traktate bedeutender Autoren, die irgendwann nach deren Tod das Licht der Welt erblicken. Die Publikation des Katalogs ist eine Großtat – möge über dem kommenden Opus magnum ein günstiges Geschick walten.