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Ausgabe: | Juli/August/2013 |
Spalte: | 877–878 |
Kategorie: | Praktische Theologie |
Autor/Hrsg.: | Conrad, Ruth, u. Martin Weeber [Hrsg.] |
Titel/Untertitel: | Protestantische Predigtlehre. Eine Darstellung in Quellen. |
Verlag: | Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XIV, 367 S. = UTB 3581. Kart. EUR 24,99. ISBN 978-3-8252-3581-9. |
Rezensent: | Frank Thomas Brinkmann |
»Wer möchte nicht mit einem einzig Buch den ganzen Spielplan doch bestreiten? / Gäb es sie nur, die Schrift für ein gesampt Colleg: / Gar echte, viele Preziosen müsst sie haben und aus allen Zeiten! / Dann nähme ich sie mit auf Studiosens Weg! / Ein schwerer Werk gleichwohl hätt niemand je zu tragen, / als jenes, welch die multos annos kühn umspannt […].«
Seit geraumer Zeit ist man sich der Problematik, die mit Quellensammlungen aller Art gegeben ist, durchaus bewusst: Warum weder ein Exzerpt noch eine Sequenz den (ganzen) Text ersetzen kann, selbst wenn man dennoch exemplarisch bzw. repräsentativ hat auswählen können. Und auch die Frage, wieso eine einzelne Schrift niemals als symptomatisch oder typisch für einen Zeitabschnitt gelesen werden sollte, dürfte längst hinreichend erörtert worden sein und sich (nicht nur) im akademischen Bewusstsein verankert haben. Aber bleiben andererseits solche Diskurse überhaupt noch stimmig, wenn man in das Gesamtkalkül einbezieht, dass allabendlich im Fernsehen die größten Hits des Jahrhunderts in so genannten Chartshows präsentiert werden und die Tagespresse ihre Lesenden mit »Top Ten«- und »Best Of«-Listen aller Art konfrontiert? In solchen Zeiten wundert es wenig, wenn Studierende veränderte Lesegewohnheiten reklamieren und angemessene bzw. auf den transformierten akademischen Alltag abgestimmte Literatur einfordern – einmal ganz abgesehen davon, dass das praktisch-pragmatische Argument auch Dozierende zu erreichen scheint: Eine einzige Darstellung in Quellen ist in der Lehre schlicht besser zu handhaben und zu verwerten als eine komplexe Regalleiste voller Bücher, eine Reihe von Ordnern mit Kopien und Extrakten!
Praktische Theologie und Homiletik haben in den letzten Dekaden ihrer Vergangenheit begonnen, sich darauf ein- und umzustellen. Dies erkennt man dort, wo homiletische Lesebücher zur heutigen Predigtlehre, Auswahlsammlungen von Texten zum Verständnis und zur Praxis der Predigt in der Neuzeit sowie Aufsatzpotpourris zu homiletischen Aspekten des Predigens im Plural produziert und publiziert wurden. Offensichtlich geht ein Trend dahin, dass man eine Art Kanon der Klassiker aufstellt, die immer wieder von geeigneten Referenten auf ihre jeweiligen Pointen hin rekonstruiert werden – oder gar auf einer recht bescheidenen Seitenanzahl ein eigenes Rederecht erhalten. Und wie wird dieser Kanon bzw. die entsprechende Auswahl nun begründet? Zum Ersten sicher über Entscheidungen, die die Bedeutsamkeit, Prägekraft und Wirkmacht einer Schrift, eines Autors oder einer Idee betreffen – und natürlich mit der Kompetenz der Herausgebenden stehen und fallen –, zum Zweiten aber auch über die Geltendmachung des Kriteriums der Bewährung: Texte, die sich in Lehrveranstaltungen und bei Examensvorbereitungen bewährt haben, zumal sie einen guten Überblick haben geben können, sind bevorzugt zu behandeln.
Die Protestantische Predigtlehre von Ruth Conrad und Martin Weeber fügt sich als Darstellung in Quellen gut in diese Traditionslinie ein. Im Prinzip beruht sie auf der Überzeugung, dass »die Beschäftigung mit der Geschichte der Homiletik die Beiträge der Gegenwart sachgemäß zu würdigen lehrt« (Vorwort, V), ihr Ziel ist im Ergebnis als eigenständige Urteilsbildung bei den Lesenden bestimmt. Auch wenn die Herausgebenden keineswegs einen verbindlichen Kanon anstreben, sollen die Lesenden mit jener Literatur bekannt und vertraut gemacht werden, die die Entwicklung der vergangenen zwei Millennien zu veranschaulichen und deren maßgebliche und folgeträchtige Denkfiguren zu exponieren vermag. Da nun dieser Literatur wohl auch einige Titel zugerechnet werden müssen, die »nirgendwo bequem zugänglich sind«, will die vorliegende Quellensammlung Abhilfe schaffen. Ein anspruchsvolles Unternehmen, das nicht pauschal, etwa mit respektvollem Blick auf den verfügbaren Editionsumfang von 370 Seiten gewürdigt sein soll, sondern de facto in Anbetracht der Umsetzung:
Das gesamte Quellenwerk ist in Abschnitte unterteilt, die quasi für größere Entwicklungsblöcke stehen wollen. Und da ist es durchaus sinnvoll, mit der »Predigt in der Alten Kirche: Rhetorisch geschulte Darstellung der christlichen Wahrheit« (3 f.) anzusetzen, sich über das »Mittelalter: Die Gestaltung der Predigtpraxis« (21 f.) und die »Reformation: Das neue Predigtverständnis als Ausdruck eines erneuerten Kirchenbegriffs« (39 f.), über Altprotestantische Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung (81 f.) auf »Schleiermacher: Die Predigt als Darstellung des christlichen Bewusstseins« (113 f.) hinzubewegen, um von dort aus eine Entwicklungsskizze zur zeitgenössischen Predigt zu entwerfen.
Sicher, manches davon hat man schon des Öfteren an anderen Stellen zur Kenntnis genommen, aber die Stärke liegt ja nicht auf dem Sektor der Innovation, sondern auf der Praktikabilität. Und diesem Prinzip – das Wichtige stehe zwischen zwei Buchdeckeln – ist dann eben auch die weitere Auswahl verpflichtet. Die Lesenden begegnen einmal mehr den bekannten Texten und Pointen von Christian Palmer, Martin Schian und Ernst Troeltsch (125 f.), von Karl Barth und Rudolf Bultmann (159 f.), von Ernst Lange und Gert Otto (191 f.). Die Überschriften der einzelnen Kapitel ergeben sich quasi von selbst, denn sie thematisieren sinngemäß die »moderne Predigt« (128), die »krisenhaft wahrgenommene Predigtpraxis« (159) und die »empirische Wende« (191). Das Werk schließt mit einem Ausblick auf »neuere Ansätze in der Homiletik« (255 f.), wo vor allem die »ästhetische Wende« (samt Folgeerscheinungen) herausgestellt wird (258 f.), aber auch Autoren zu Wort kommen, die sich nicht zwingend einem Konzept zuordnen lassen.
So weit die Kapitel, die also tatsächlich einen gewissen Zeitraum zu erfassen suchen, indem sie drei bis vier Textpassagen bzw. -ausschnitte vorstellen. Dies gelingt nicht zuletzt dadurch, dass den Kapiteln immer ein Einführungsabschnitt vorangestellt ist, in dem die jeweiligen historisch-zeitgeschichtlichen, kulturell-politischen Kontexte und Hintergründe prägnant aufgezeigt werden.
Bis auf den Umstand, dass die Transkription der alten Texte nicht einheitlich ist – man hätte sie entweder alle aus ihrer Sprache und ihrem Schriftbild heraus in eine orthographisch zeitgemäße und sprachlich einwandfreie Form bringen können oder eben alle gar nicht! –, ist diese Darstellung in Quellen zu einer runden Angelegenheit geworden, die vielleicht auch von der Erfahrung zehrt: Immerhin hatte der zweitgenannte Herausgeber zehn Jahre zuvor mit Christian Albrecht schon die Klassiker der protestantischen Predigtlehre herausgegeben. Man ist geneigt, sich nun den dritten Band zu wünschen. Predigten der protestantischen Predigtlehre müsste er wohl heißen – und den Lesenden vielleicht einmal vorführen, wie ein Klassiker seine Predigttheorie(n) in die Tat umzusetzen vermag. Oder eben auch nicht.