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Ausgabe:

Juni/2013

Spalte:

709–712

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Lessing, Hanns, Besten, Julia, Dedering, Tilman, Hohmann, Christian, u. Lize Kriel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Deutsche evangelische Kirche im kolonialen südlichen Afrika. Die Rolle der Auslandsarbeit von den Anfängen bis in die 1920er Jahre. Hrsg. im Auftrag d. Träger u. d. Wissenschaftlichen Beirats d. Studienprozesses zur Rolle d. deutschen evangelischen Auslandsarbeit im kolo­-nialen südlichen Afrika.

Verlag:

Wiesbaden: O. Harrassowitz 2011. IX, 710 S. = Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte (Asien, Afrika, Lateinamerika), 18. Geb. EUR 86,00. ISBN 978-3-447-06535-1.

Rezensent:

Ulrich van der Heyden

Einen harten Vorwurf hat kürzlich der Theologe und Publizist Ben Khumalo-Seegelken in einem Aufsatz über den Südafrikanischen Kirchenrat (SACC) in dem Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit »Welt-Sichten« (9/2012) vorgebracht. Er ist der Meinung, dass einige Kirchen in Südafrika, neben den weißen reformierten vor allem die lutherischen Kirchen, im schwierigen Demokratisierungsprozess des ehemaligen Apartheidsstaates »auf Distanz« gegangen sind: »Sie kapseln sich weiter ab und beteiligen sich kaum an Annäherungsversuchen und Verständigungsprozessen, die derzeit in Gang kommen« (29). Eine solche Einschätzung ließe sich auch in Bezug auf die Ge­schichte treffen.
Genauso wenig wie die deutsche Bundesregierung hat beispielsweise die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) – wie es viele Nichtregierungsorganisationen und Einzelpersönlichkeiten sowie auch die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland 2004 forderten – bisher eine öffentliche Stellungnahme zum Völkermord im heutigen Namibia, der dort zwischen 1905 und 1907 stattfand, abgegeben. Auf eine offizielle Entschuldigung warten die Nachfahren der damaligen Be­troffenen im Süden Afrikas noch immer.
Zu Recht fordern vornehmlich einige ehemals in Afrikas Süden arbeitende Pfarrer, die vor Ort erfahren mussten, wie lebendig die Erinnerungen an den kolonialen Massenmord noch in ihren afrikanischen Gemeinden präsent ist, dass die EKD ihr schuldhaftes Versagen im Kontext des Kolonialismus eingesteht. Denn immerhin hatte die Kirche Militärpfarrer in die Kolonie Deutsch-Südwestafrika entsandt, von denen erschreckende Berichte vorliegen, wie sie mit Feldgottesdiensten die kriegerischen Handlungen zur Ausrottung oder zumindest Unterjochung von afrikanischen Ethnien unterstützten. Aber auch andere Pfarrer unterstützten mehr oder minder direkt die Durchsetzung und Aufrechterhaltung des rassistischen Regimes im heutigen Namibia zur Zeit der direkten deutschen Kolonialherrschaft.
Allein dies wäre schon ein wichtiger Grund, sich nach mehr als 100 Jahren der Vergangenheit und der daraus erwachsenen Verantwortung zu stellen. Denn ein solches, das Kolonialregime unterstützendes Wirken, jedoch auch vereinzelte Verweigerungen von Missionsvertretern sowie Empörungen und nachträgliche Anklagen der kolonialen Verbrechen sind bislang von den deutschen Kirchen und vor allem von den heutigen Missionswerken noch nicht aufgearbeitet worden.
Dabei liegen die schuldhaften Handlungen nicht nur bei den deutschen Auslandspfarrern bei der versuchten Ausrottung der Herero, sondern ebenso bei dem Versagen vieler deutscher Missionare im gesamten Süden Afrikas. Denn viele von ihnen unterstützten nicht nur das koloniale Herrschaftssystem Deutschlands – und dies nicht nur in Namibia, sondern auch in der benachbarten heutigen Republik Südafrika, wo ebenfalls deutsche Pfarrer und Missionare in recht beträchtlicher Anzahl, vor allem seit Mitte des 19. Jh.s, wirkten.
Der in geographischer, zeitlicher und vor allem inhaltlicher Hin­sicht breit gestaffelten Thematik haben sich vor einiger Zeit die Evangelische Kirche in Deutschland auf Vorschlag der Evangelischen Kirche im Rheinland und die heutige Vereinte Evangelische Mission, die vormalige Rheinische Missionsgesellschaft, in Form eines Studienprozesses angenommen. Acht weitere Kirchen und Missionswerke aus Deutschland sowie je drei Kirchen aus Namibia und Südafrika haben sich angeschlossen. Nach intensiven Diskussionen unter ausgewählten Theologen und Historikern ist ein voluminöser Sammelband entstanden. Die dort zusammengeführten Beiträge sollen die »Rolle der evangelischen Kirchen in der Kolonialvergangenheit im südlichen Afrika« (6), wie vom Rat der EKD gefordert, aufarbeiten.
Das so entstandene sichtbare Ergebnis vereint insgesamt 31 in deutscher Sprache erarbeitete historische Beiträge auf über 600 Druckseiten (eine englischsprachige Version des Buches liegt in­zwischen ebenfalls vor). Sie stellen eine Fundgrube für Missions-, Übersee- und Kirchenhistoriker dar. Aber auch für Vertreter anderer Wissenschaftsdisziplinen hält die Lektüre Lesens- und Wissenswertes bereit – beispielsweise zur interkulturellen Theologie, Ethnologie oder Wissenschaftsgeschichte. Auf all die hier durchaus in unterschiedlicher Qualität vorliegenden Beiträge einzugehen, würde die für diese Rezension vorhandenen Möglichkeiten weit überschreiten. Aber auf einige wichtige Ergebnisse der Lektüre soll verwiesen werden.
So fällt jedem Interessierten zunächst auf, dass zwischen den einzelnen Studien kaum eine inhaltliche Beziehung zu erkennen ist. Außerdem sind Wiederholungen und Überschneidungen ärgerlich. Auch wenn sich die Herausgeber bemühten, die eingeforderten Beiträge, von denen übrigens nicht alle auch gedruckt wurden, in drei große Teile zu gliedern, fällt eine Orientierung für den Leser schwer. Es fehlen nicht nur geographische Karten, sondern auch nicht vorhandene geographische und historische Basisinformationen erschweren das Verstehen für den Nichtfachmann.
Innerhalb der Grobeinteilung sind die einzelnen Aufsätze in thematische Komplexe zusammenfasst. Dennoch fällt auf, dass nicht alle am Studienprozess beteiligten Institutionen gleichwertig in der Aufarbeitung, die die Zeit von der ersten europäischen Besiedlung Südafrikas im Jahre 1652 bis etwa zum Ersten Weltkrieg behandeln soll, berücksichtigt werden. So ist es nicht verwunderlich, wenn bestimmte Regionen und kirchliche bzw. missionarische Institutionen überhaupt nicht oder weniger behandelt werden als andere. – Auf die Frage, um wie viele Personen es sich handelt und wie die deutschen im quantitativen Vergleich zu Missionaren und Pfarrern anderer europäischer Nationen zu gewichten sind, findet der Leser allerdings in keinem Beitrag eine Antwort.
In den recht umfangreichen einführenden Bemerkungen erläutern u. a. die Herausgeber Ziele und Aufgaben des Studienprozesses. Der erste Teil beinhaltet in mehreren Beiträgen die »Auslandsarbeit deutscher Kirchen und Missionswerke« in Bezug auf ihre Kontakte und Transferbeziehungen, ihre Ideen und Konzepte. Teil 2 geht ein auf »Entstehung, Entwicklung und Selbstverständnis der deutschsprachigen Minderheiten im südlichen Afrika« in ihrer »Formation und Konsolidierung« und mit ihren kulturellen »Identitäten«. Das Thema wird veranschaulicht durch vier Fallbeispiele sowie einen Vergleich der »Siedlerkirchen«. Die einzelnen Studien des dritten Teils reflektieren die negativen »Konsequenzen deuts cher Einwanderung«, nämlich Rassismus, Ausgrenzung und Landkonflikte. Abgeschlossen wird der Band mit dem Abdruck einer Predigt von M. Schindehütte, einem Grußwort von W. Kistner sowie einem Artikel von P. J. Isaak über »Kulturelle Dominanz und geistige Sklaverei«, der sich zum »Umgang mit den Folgen des Kolonialis­mus« äußert.
Deutlich wird in fast allen Beiträgen, dass kirchliche Auslandsarbeit vornehmlich für die deutschen Gemeinden der Kolonialgesellschaft gedacht war und die afrikanischen Gemeinden Angelegenheit der Missionare waren. Nur zuweilen wurden beide Aufgaben, so von den Hermannsburgern, von einer Person ausgeführt.
Die Bearbeitung der gewählten Thematik ist trotz der genannten Monita nicht zuletzt deshalb zu begrüßen, weil sie die seit Jahrzehnten, spätestens mit den im »afrikanischen Jahr« 1960 begonnenen Diskussionen über die Rolle der europäischen Missionare im Prozess der kolonialen Eroberung und Herrschaftssicherung sowie bei der antikolonialen Befreiung, die immer wieder aufflackert, mit neuen Argumenten und Einsichten unterfüttert. Denn oft genug obsiegten in den in der Vergangenheit geführten Disputen Pauschalurteile. Deshalb ist es vor allem wichtig, dass die Evangelische Kirche in Deutschland und ihre Partner mit diesem Studienprozess Verantwortung übernommen haben, egal, was im vorzustellenden Buch an Einzelergebnissen herausgekommen ist.
Die wissenschaftliche Qualität sowie die Relevanz der untersuchten Problemstellungen für den Studienprozess sind höchst unterschiedlich. Einige Beiträge scheinen regional und zeitlich zu begrenzt (etwa über die kleine deutschsprachige Siedlung Kroondal im Südafrikanischen Krieg 1899 bis 1902) zu sein oder die entsprechende Forschungsliteratur wird nicht zur Kenntnis genommen (um bei dem genannten Beispiel zu bleiben: Die zu inhaltlich übergreifenden Themen vorliegende Fachliteratur, wie die zur Stellung deutscher Missionsgesellschaften zu dem genannten Krieg, wurde schlichtweg ignoriert). Andere Beiträge wiederum sind so breit angelegt, etwa über die deutsche Siedlergemeinschaft in Namibia oder über diejenige in Südafrika, dass hier kaum mehr als einige nützliche Anregungen für tiefer gehende Forschungen geboten werden können.
Einige Fallstudien stellen durchaus den Stand der internationalen Forschungen dar, wie die von R. Wendt über das südliche Afrika in der Öffentlichkeitsarbeit der Rheinischen Missionsgesellschaft, G. Pakendorf über die deutsche Sprache als konstituierendes Element deutscher Siedlergemeinschaften, F. Hasselhorn über die Trennung der Hermannsburger Gemeinden in Natal oder R. Kößler zu Land und Mission im Süden Namibias. Zwei weitere Beiträge befassen sich ebenfalls mit der Landpolitik der Rheinischen Missionsgesellschaft. Warum hier nicht auch die Landespolitik der Berliner Mission in Südafrika, die wohl größte deutsche Missionsgesellschaft in der heutigen Republik im Süden Afrikas, bearbeitet wurde, ist nicht nachvollziehbar, zumal entsprechende Studien vorliegen, beispielsweise die von A. Schultze (»In Gottes Namen Hütten bauen«. Kirchlicher Landbesitz in Südafrika. Die Berliner Mission und die Evangelisch-Lutherische Kirche Südafrikas zwischen 1834–2005). Man kann nur annehmen, dass Platzmangel hierfür die Ursache gewesen ist. Denn neben den historischen Studienergebnissen mussten noch auf gut 90 Seiten Quellen-, Literatur-, Register- und Autorenverzeichnis platziert werden.
Ein abschließendes Urteil über den vorliegenden Studienband ab­zugeben, fällt nicht leicht, vor allem vor dem Hintergrund zweier sich aufdrängender Fragen. Zum einen muss gefragt werden, warum in diesem Band kein einziger Afrikaner, quasi Vertreter der Betroffenen, zu Wort gekommen ist, und zum anderen, ob die hier zusam­mengeführten Beiträge nicht auch an anderer Stelle hätten veröffentlicht werden können. Denn in der Tat sind einige der behandelten Forschungsfragen in der Vergangenheit schon in akademischen Fachzeitschriften problematisiert worden. Es bleibt zu hoffen, dass die hier nicht dokumentierten Diskussionen, die im Vorfeld und im Verlaufe des Studienprozesses geführt worden sind, einen Nutzen für das Selbstverständnis der beteiligten Institutionen gebracht haben und dass der zweite angekündigte Band, der die Zeit ab etwa dem Ende des Ersten Weltkrieges behandeln soll, eine stringentere Strategie erkennen lassen wird. Dies wird nicht leicht werden, fällt in diesen Zeitabschnitt doch die Verquickung deutscher Missionare und ihrer Nachfahren mit der Apartheidsideologie und das Verhältnis der deutschen Kirchen und Missionsgesellschaften zur Rassenpolitik und zu den Befreiungsorganisationen im Süden Afrikas.
Die hier vorgetragene Kritik soll nicht den lobenswerten Ansatz des Studienprozesses oder den akademischen Wert der einzelnen Beiträge schmälern. Neben den neuen wissenschaftlichen Er­kenntnissen haben ja bekanntlich auch subsumierende Darstellungen ihren Wert. Doch für ein weiteres wissenschaftliches Ergebnis, das ja der weiterzuführende Studienprozess und das zu erwartende neue Buch verfolgen, sollte nicht nur der »deutsche Blick« allein Berücksichtigung finden, sondern auch mehr Wert auf Stringenz in Bezug auf die Zielstellung gelegt werden.