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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

604–605

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Wilckens, Ulrich

Titel/Untertitel:

Kritik der Bibelkritik. Wie die Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden kann.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2012. 172 S. Kart. EUR 16,99. ISBN 978-3-7887-2603-4.

Rezensent:

Marius Reiser

»In der ›vorkritischen‹ Zeit war es einmal der Sinn und das Ziel aller Auslegung biblischer Texte: diese als Zeugnisse von Gott ernst zu nehmen, um selbst ›Gottes Wort‹ aus ihnen zu vernehmen: Ist es damit wirklich und endgültig vorbei?« (13) Die Antwort, die Ulrich Wilckens auf die selbst gestellte Frage gibt, lautet kurz gefasst: Ja, wenn man die Aufklärung zum absoluten Maßstab aller Auslegung erhebt; nein, wenn man die Bibel als Buch der Kirche liest und ihren eigenen Anspruch ernst nimmt. Diesem Urteil stimmt der katholische Rezensent ohne Einschränkung zu. Und das gilt für fast alle Ausführungen in diesem mit Herzblut geschriebenen Buch, soweit er sich über die behandelten Gegenstände ein Urteil erlauben kann.
Das Buch ist ohne alle Anmerkungen und gut verständlich ge­schrieben. Die wichtigeste Literatur zur Thematik wird am Ende auf zwei Seiten angegeben. Ganz entsprechend dem Titel und Un­tertitel hat es zwei Teile: einen größeren über »die Geschichte der historisch-kritischen Exegese« (15–115) und einen kleineren, der überschrieben ist: »Wie kann die historisch ausgelegte Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden?« (116–170)
Der kritische Überblick über die Exegesegeschichte ist zwei­-fellos der interessantere Teil. In ihm will W. »mit der gleichen Methode, mit der die Tradition historischer Kritik die biblischen Texte zu verstehen sucht, die historische Bibelkritik selbst historisch-kritisch auf die sie leitenden Motive hin« prüfen (14). Da es um leitende Motive geht, ist es nicht verwunderlich, dass es dabei nicht nur um Exegesegeschichte geht, sondern auch um Theo­logiegeschichte. Grundmotive der Theologie der Aufklärung, die sich einer an­geblich autonomen Vernunft verschrieben hatte, sind nach W. das antidogmatische Prinzip, die Ablehnung der In­spirationslehre, die Bestreitung der Wunder samt der Auferstehung Jesu, das Verneinen der Sühnewirkung des Todes Jesu, die Reduktion seiner Botschaft auf Moral und die Ausblendung der wesenhaften Kirchlichkeit des Christentums. Er zeigt dann, wie sich diese Motive im Laufe der Geschichte in Zustimmung und Ablehnung auswirken und bis heute durchhalten. Eine ihrer Folgen ist Sachkritik an der Bibel selbst, deren Maßstab außerhalb der Bibel liegt. Damit ist das sola scriptura endgültig aufgegeben. Wichtige Namen in dieser Geschichte sind Kant, Hegel, Nietzsche, Schleiermacher, Troeltsch, Schlatter, Ritschl, Kähler, Barth, Bultmann.
Unbefriedigend ist das Kapitel über die Stellung der römisch-katholischen Kirche zur Bibelkritik seit der Aufklärung. Das liegt aber nicht an der Unkenntnis W.s, sondern daran, dass dieses Feld kaum erforscht ist. Die Geschichte ihrer Disziplin vor der Modernismuskrise Anfang des 20. Jh.s hat die katholische Exegese bisher nicht interessiert. Den »zusam­menfassenden Rückblick« (102–115) sollte man zum hermeneu­tischen Grundtext für jedes exegetische Proseminar machen.
Der zweite Teil des Buches bietet eine Art Kurzfassung der »Theologie des Neuen Testaments« W.s. Der Kernsatz dieser Theologie ist Ex 34,6 f. Diese Stelle wird auf 44 Seiten 27 Mal angeführt. Hier offenbart sich Gott endgültig als Gott der Liebe, der Gnade und Barmherzigkeit, der die Sünde vergibt, sie aber nicht ungestraft lässt. Diese »Mitte des Alten Testaments« vollendet sich in der Geschichte Jesu (122). Aus ihr ergeben sich Christologie und Rechtfertigungslehre, ja sogar die kirchliche Dimension des christlichen Glaubens (144). Es zeigt sich, dass die Grundmotive der Aufklärungstheologie unbiblisch sind und jede »Theologie« verhindern.
Angesichts der Betonung des kirchlichen Horizonts hätte man eine Erwähnung der Analogie des Glaubens erwartet. Dass W. von ihr ausgeht, ist deutlich. Aber er hat wohl mit Bedacht auf dieses Reizthema verzichtet.