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Ausgabe:

Mai/2013

Spalte:

561–563

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Willi, Thomas

Titel/Untertitel:

Esra. Der Lehrer Israels.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 272 S. m. Abb. = Biblische Gestalten, 26. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-374-03049-1.

Rezensent:

Thomas Hieke

Die Reihe »Biblische Gestalten« der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig hat mittlerweile schon einige sowohl allgemeinverständliche als auch zugleich wissenschaftlich fundierte Kleinodien hervorgebracht, und Thomas Willi fügt mit seinem Band zu »Esra« ein weiteres, ausgesprochen wertvolles hinzu. Hier sind die Früchte jahrzehntelanger Forschung zu den »späten Geschichtsbüchern« der Bibel (Esra-Nehemia und 1/2Chronik) zu genießen.
Das Buch ist in drei Teile (Einführung, Darstellung, Wirkung) gegliedert. Die Einführung behandelt übergreifende Fragen zur Quellenlage, zur Struktur des Buches Esra-Nehemia, das in der hebräischen Bibel eine Einheit bildet, zum Geschichtsbild und den verschiedenen Perspektiven dieses Buches. Die Figur »Esra« ist historisch nur aus dem Esra-Nehemia-Buch greifbar; alle weiteren Zeugnisse gehören schon zu der bemerkenswerten Wirkungsgeschichte, die diese Gestalt im Judentum ausgelöst hat. In der Forschung finden sich viele Positionen zwischen den Extremen einer weitgehenden Skepsis gegenüber dem historischen Quellenwert des biblischen Buches Esra-Nehemia einerseits und einer unkritischen Übernahme der Darstellung als geschichtliche Ereignisse andererseits. Die Ausführungen W.s finden hier einen angemessenen Mittelweg. An der geschichtlichen Existenz Esras muss nicht gezweifelt werden, und auch die wesentlichen Punkte des Ge­schichtsablaufs dürften sich in etwa so abgespielt haben, denn das Geschichtsbild des Buches Esra-Nehemia ist – bei angemessener Interpretation – durchaus plausibel. Die immer wieder zu findende Kritik der Forschung insbesondere an der Zusammenarbeit bzw. historischen Abfolge der Akteure Esra und Nehemia beruht meist auf einer überkritischen Verzeichnung der Textdarstellung. So zeigt W. in überzeugender Weise, dass die feierliche Verlesung der Tora in Neh 8 nicht einen Anfang, sondern den krönenden Ab­schluss eines schriftlichen und mündlichen Lehrwerks Esras darstellt. Somit ist die Datierung des Auftretens Esras unter dem persischen König Artaxerxes I., also 458 v. Chr., durchaus plausibel: Esra braucht die folgenden Jahre, um das in Esr 7 angezeigte Programm umzusetzen, so dass dann mit dem Auftreten und dem Werk Nehemias 445 v. Chr. sowohl die äußere wie auch die innere Konsolidierung der Stadt und des Umlandes (Jerusalem und die Provinz Jehud) zu einem vorläufigen Zielpunkt kommen. Die Stadtmauer und die Etablierung der Tora als »Verfassung« bilden die Grundlagen des Gemeinwesens, das sich als anerkannter Teil des persischen Weltreiches versteht. W. arbeitet klar diese Grunddaten heraus, weist aber ebenso deutlich darauf hin, dass die historische Forschung die weiteren Einzelheiten mit großer Vorsicht betrachtet und insbesondere die vermeintlich authentischen Dokumente innerhalb des Buches Esra-Nehemia eher als Konstruktion unter bestimmten politischen und religiösen Leitgedanken aufzufassen sind. Die Abfassung des Buches Esra-Nehemia selbst datiert W. in die »spätpersisch-vorhellenistische Zeit in Juda (Jerusalem?)« (22).
Der »Darstellung« überschriebene Teil geht im Wesentlichen an den für Esra einschlägigen Passagen des Buches entlang (Esr 1,1–4; Esr 7–10; Neh 8) und bietet als Ausgangspunkt jeweils eigene Übersetzungen dieser Texte. Neben die Kommentierung dieser Belege treten dann längere Ausführungen zu wichtigen Begleitthemen, die teils in den Aufbau integriert werden, teils als Exkurse gekennzeichnet werden. Auch wenn diese Darlegungen nicht unmittelbar die Figur Esras betreffen, liefern sie doch ganz wesentliche Einsichten in das geschichtliche, kulturelle und religiöse Umfeld, vor dem Esra agiert und das er durch sein Tun prägt. So behandelt W. etwa das Verhältnis des Jerusalemer Tempels zum persischen Weltreich, das Judesein in der Diaspora des Reiches, die Konzeption der Stadt Jerusalem, den Sprachenwechsel zwischen Hebräisch und Aramäisch sowie anderes mehr. Da Esra selbst im Buch sowohl als »Pries­ ter« als auch als »Schriftgelehrter« vorgestellt wird, widmet W. diesen beiden Institutionen längere Herleitungen. So werden die besondere Ausprägung des Priestertums Esras ebenso deutlich wie die grundlegende Bedeutung von Schrift und Schriftlichkeit für den Neuanfang »Israels« in Jerusalem und Jehud. Die idealtypische Darstellung der Tora-Verlesung in Neh 8 ist für W. Grund, Herkunft, Wesen und Dimensionen der »Tora« ausführlich vorzustellen. Esra erscheint als idealer Lehrer der göttlichen Tora, zunächst der mündlichen, dann aber auch der schriftlichen Weisung. Gegen ein landläufiges, kaum auszurottendes Vorurteil des Verständnisses als »Gesetz« ist – so wird W. nicht müde zu betonen – die Tora als göttliche Gabe, als wertvolle Weisung für das zwischenmenschliche Zusammenleben in Religionsgemeinschaft und politischem Gemeinwesen anzusehen (und als solche, als »Kern und Stern« Israels, wird die Tora bis heute im Judentum betrachtet).
Im Teil »Wirkung« geht W. u. a. auf das rabbinische Konzept der »großen Versammlung« und die bildliche Darstellung Esras in der Synagoge von Dura Europos am Eufrat (245 n. Chr.) ein. In der nachbiblischen pseudepigraphischen Literatur ist auf das apokalyp­tische Buch 4Esra zu verweisen, an dessen Ende sich die Passage befindet, gemäß der Esra durch göttlichen Beistand die verloren gegangenen heiligen Bücher des Judentums rekonstruiert, die 24 öffentlichen der Bibel Israels und die 70 geheimen für die Weisen des Volkes. Die Vorstellung von Esra als »neuer Mose« und Schreiber findet ihren ikonographischen Niederschlag in einer Buchmalerei im Codex Amiatinus 1 (Vulgatahandschrift, ca. 7. Jh. n. Chr.).
Die sehr angenehm zu lesende, allgemeinverständliche Darstellung der in ihrer Bedeutung für das Judentum und die gesamte biblische Tradition nicht zu unterschätzenden Figur des Esra durch W. ist ein gelungenes Werk. Es kann einem großen Publikum (von den Studierenden der Theologie über die an der Geschichte der Bibel interessierten Theologinnen und Theologen bis hin zu allen für diese Fragen aufgeschlossenen Menschen jüdischen und christlichen Glaubens) zur Lektüre besonders empfohlen werden.