Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2013

Spalte:

448–451

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lyu, Eun-Geol

Titel/Untertitel:

Sünde und Rechtfertigung bei Paulus. Eine exegetische Untersuchung zum paulinischen Sündenverständnis aus soteriologischer Sicht.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XV, 405 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 318. Kart. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-151006-9.

Rezensent:

Jens-Christian Maschmeier

In der von Peter Lampe (Heidelberg) betreuten Dissertation unternimmt Eun-Geol Lyu den Versuch, die diachrone Entwicklung des paulinischen Sündenverständnisses nachzuzeichnen und gleichzeitig ein kohärentes Bild seiner Rechtfertigungstheologie zu entwickeln. Paulus, so lautet die Grundthese, habe die sich unterschiedlichen Kontexten verdankende Sühne-, Nichtanrechnungs- und Befreiungstheologie, deren jeweiliger Ausgangspunkt die menschliche Sündhaftigkeit bildet, in das eine Kerygma, die Rechtfertigungslehre, integriert. Die Sündenthematik, die in der Regel von der Rechtfertigung her als postkonversionale aus der Retrospektive beleuchtet werde, stehe im Zentrum der paulinischen Theologie. Das Vorhaben L.s reiht sich in die Versuche ein, das Verhältnis von Diachronie und Synchronie in der Theologie des Apos­tels zu bestimmen.
Im ersten Teil »Sünde und Sühnungstheologie des Paulus« (§ 4–8) unternimmt L. nach einer kurzen Einleitung (§ 1) und Forschungsgeschichte (§ 2) sowie einer begriffsgeschichtlichen Skizze des Terminus »Sünde« in der alttestamentlichen und griechischen Tradition (§ 3) eine Rekonstruktion des paulinischen Protokerygmas, das der Apostel in der Zeit vor der Abfassung seiner Briefe vertreten habe und als dessen Ausgangspunkt L. in § 4 die in 1Kor 15,3–4 vorliegende sühnetheologische Tradition ausmacht. Verstehenshintergrund für die Deutung des Todes Jesu als Sühnetod sei die jüdische Kultvorstellung, ohne dass sein Tod als Opfer verstanden werden dürfe (§ 5). L. nimmt eine Diskontinuität des Sühnetodes Christi zum alttestamentlichen Kult an, der keine »wahre« und »vollkommene« Sühne ermögliche (70.75.85; vgl. auch 148). Letztlich sei eine Ableitung der Sühnungstheologie aufgrund der »Einzigartigkeit des urchristlichen Todesverständnisses« (87) auch aus dem Judentum nicht möglich. Das gilt nach L. auch für die Rechtfertigungslehre (§ 6), mit der Paulus die Sühnungstheologie in seinem Protokerygma ergänzt habe. Zwar werde auch nach alttestament­-lichem Verständnis der Sünde-Unheil-Zusammenhang durch kultische Sühne von Gott her durchbrochen, die Amalgamierung der kultischen Sühnetodvorstellung und der aus der Apokalyptik stam­menden Vorstellung des eschatologischen Gerichts in der Rechtfertigungslehre stelle aber eine Neuschöpfung des Apostels dar (148). Nachdem L. in § 7 anhand kleinasiatischer Beichtinschriften die Möglichkeit für Paulus aufgezeigt hat, auch »Heiden« auf ihre Sühnebedürftigkeit anzusprechen, nimmt er in § 8 eine Rekonstruktion des paulinischen Protokerygmas vor. In methodischer Hinsicht benennt er vier von ihm so genannte innere Kriterien (136), die auf einer Unterscheidung von »Kerygma« und »Didache« beruhen. Unter »Didache« versteht L. alle situativen Erläuterungen seines Kerygmas. Zentraler Inhalt des Protokerygmas sei die menschliche Sündhaftigkeit und der damit verbundene Zorn Gottes, der auf die Notwendigkeit des durch Christi Sühnetod und die Rechtfertigung des Sünders gewährten Heils verweist, nicht aber die Gesetzespolemik.
Im zweiten Teil »Sünde und Nichtanrechnungstheologie« (§ 9–12) verortet L. die im Protokerygma nicht enthaltene gesetzeskritische Vorstellung, dass die Gläubigen mit Christus dem Gesetz sterben (Gal 2,19 f.; Röm 7,4), so dass ihnen ihre Sünden nicht mehr angerechnet werden können, im galatischen Konflikt (§ 9–10). Die Verwendung des für die Nichtanrechnungstheologie zentralen Abrahammotivs führt L. auf die Bedeutung Abrahams als ersten Proselyten in der Argumentation seiner Gegner zurück. Die Gegenüberstellung von Glauben und Werken sei originär paulinisch. Weil die Teilhabe am kultisch verstandenen Sühnetod Christi die Beschneidung als Ausdruck der Kultfähigkeit voraussetze, blieben die Galater nach Auffassung der Gegner des Paulus »Sünder aus den Heiden«. So lautet die These L.s in § 10. Paulus erteile dieser »diskriminierenden« Unterteilung zwischen Juden und nichtjüdischen Sündern (Gal 2,15) eine Absage. Gal 2,15 stelle keine concessio an Judenchristen, sondern die Position der Gegner dar, die Paulus trotz des vorangestellten ἡμεῖς nicht teile. Analogien findet L. in 1Kor 6,12b; 10,23 und 2Kor 12,2–4. Dazu nur so viel: Die Darstellung einer Meinung in der 1. Person, der er grundlegend widerspricht, wäre singulär. Gegen L.s Interpretation spricht auch der Forschungskonsens, dass Gal 2,15–18 auf literarischer Ebene den in V.14 begonnenen Dialog zwischen Paulus und Petrus fortsetzt. In § 11 untersucht L. die Nichtanrechnungstheologie in Gal und Röm. Während in Gal im Kontext der Bestreitung der jüdischen Exklusivität die Wendung ἔργα νόμου auf die jüdischen Ritualgesetze ziele, bezeichneten die ἔργα in Röm den Versuch, durch Toraobservanz Gerechtigkeit zu erlangen. Weil Paulus dies aber grundsätzlich ablehne, könne die Aussage, dass »die Täter der Tora ge­rechtfertigt werden« (Röm 2,13), nur ironisch gemeint sein, eigentlich aber wäre sie »doch eher in Klammern einzuschließen oder ganz zu streichen« (231). Röm 4 zeige, dass der passive Glaube als Konsequenz der göttlichen Gnade und nicht die Toraobservanz als Ausdruck eines jü­-dischen Lohndenkens die »wahre« Abrahamskindschaft begründe, die aber auch Juden offen stehe (250!). Nicht nur an dieser Stelle wird deutlich, wie L. die paulinische Argumentation pro gentibus in eine Argumentation contra Iudaeos verkehrt. In § 12 setzt sich L. mit der New Perspective auseinander, deren Auffassung, das Judentum sei keine Religion der Werkgerechtigkeit, er teilt, deren Vernachlässigung der Sündenthematik er aber kritisiert.
Im dritten Teil »Sünde und Befreiungstheologie des Paulus« (§ 13–15) untersucht L. in § 13 und § 14 die Personifikation der Sünde, bevor er in § 15 die zentrale Stellung der Rechtfertigungslehre herausarbeitet. In § 14 ordnet er das Verständnis von Sünde als Tat der Sühnungs- und Nichtanrechnungstheologie, das Verständnis von Sünde als Macht, aus der die Glaubenden befreit werden müssen, hingegen der Befreiungstheologie zu, die sich ausschließlich in Röm finde. Wie insbesondere Röm 7,8–25 zeige, verführe die Sündenmacht die zwar Bekehrten, aber noch nicht im Geist-Wandelnden dazu, durch Gesetzesgehorsam im Heil zu verbleiben (324 f.). Legalismus wird so zur Gefahr einer (werdenden) christlichen Exis­tenz. In diesem Sinne versteht L. Röm 7,16 so, »dass der Redende – gegen seinen Willen – nach dem Gesetz handelt« (326). Im gesamten Abschnitt wird aber m. E. nicht der Wille, das Gesetz zu tun, sondern der Hiatus zwischen Wollen und Vollbringen des Gesetzes problematisiert. Die Aussage »ich lebte einst ohne Gesetz« (Röm 7,9) bezieht L. auf die Zeit zwischen dem »Dem-Gesetz-Sterben« (Röm 7,4) und dem »Wandel im Geist« (Röm 8), was aber aufgrund des Rekurses auf die Schöpfungsgeschichte und das zehnte Gebot in Röm 7,7–8 unwahrscheinlich ist. Angesichts der Außenseiterposition, die L. bei seiner Exegese von Röm 7,7–25 einnimmt, wäre eine ausführlichere Diskussion der Sekundärliteratur wünschenswert gewesen. In § 15 ordnet L. andere »soteriologische Modelle« wie »Versöhnung« und »Erlösung« der einen Rechtfertigungslehre un­ter, die sich aus den »soteriologischen Schemata« der in unterschiedlichen historischen Kontexten entstandenen Sühnungs-, Nichtanrechnungs- und Befreiungstheologie zusammensetzt.
Dass L. die Rechtfertigungslehre konsequent von dem Sündenverständnis des Apostels her beleuchtet, verleiht seiner Arbeit in­novativen Charakter. Dennoch sollen hier einige grundsätzliche Kritikpunkte genannt werden. 1. Die These, dass alles Urchristliche nichtjüdisch und alles Paulinische weder aus dem Judentum noch aus dem Urchristentum ableitbar sei, ist nicht haltbar. Unabhängig von terminologischen Unterschieden ist die gnädige Gewährung eines erneuten intakten Gottesverhältnisses der Sache nach nicht erst für Paulus, sondern schon für das Alte Testament und das antike Judentum zentral. Paulus stellt diese Vorstellungen lediglich in einen apokalyptischen Kontext. Die Etikettierung paulinischer Positionen als »christlich« ist anachronistisch. 2. L. verbindet Positionen einer lutherischen und einer neuen Paulusperspektive so miteinander, dass sich gravierende Inkohärenzen ergeben: Ob­wohl er mit der New Perspective die Charakterisierung des Judentums als legalistisch ablehnt, sieht er Paulus dennoch gegen Werkgerechtigkeit (in Röm) vorgehen. Auf diese Weise werden kontextuelle Aussagen durch die Integration in das eine Kerygma zu prinzipiellen, so dass es letztendlich doch zu der klassischen Opposition von Glaubens- und Werkgerechtigkeit kommt. 3. Die Op­-positionen Judentum/Christentum und Glaubensgerechtigkeit/ Werkgerechtigkeit werden durch das Gegenüber jüdischer Partikularis­mus/paulinischer Universalismus ergänzt. Die Inklusion nichtjüdischer Christusgläubiger impliziert für L. die Negation der Erwählung des Judentums. Auch wenn die genannten Oppositionen in der neutestamentlichen Forschung leider immer noch weit verbreitet sind, bleibt es notwendig, diese durch kritische Forschung aufzubrechen.