Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2013

Spalte:

443–446

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gordley, Matthew E.

Titel/Untertitel:

The Colossian Hymn in Context. An Exegesis in Light of Jewish and Greco-Roman Hymnic and Epis­tolary Conventions.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. IX, 295 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 228. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-16-149255-6.

Rezensent:

Ralph Brucker

Von den vielen »Hymnen«, die im Verlauf der Forschung schon im Neuen Testament gefunden worden sind, können heute nur noch Phil 2,6–11, Kol 1,15–20, 1Tim 3,16 und Joh 1,1–18 als einigermaßen konsensfähig gelten. Mit einem dieser Texte, Kol 1,15–20, beschäftigt sich das hier anzuzeigende Buch von Matthew E. Gordley, das auf seine von David Aune betreute Dissertation an der University of Notre Dame 2006 zurückgeht. Der Titel »The Colossian Hymn in Context« ist dabei in doppeltem Sinn zu verstehen: Einerseits soll der zeitgeschichtliche Kontext beachtet werden, in dem der Text entstanden ist, andererseits der briefliche Kontext, in dem er überliefert ist und eine rhetorische und epistolographische Funktion hat. Hatte schon Eduard Norden (Agnostos Theos, Leipzig 1913, 250–254) unter Hinweis auf die gehäuften Relativpronomina und Partizipien den Abschnitt Kol 1,12–20 herausgehoben, so hat sich die spätere Forschung auf Kol 1,15–20 konzentriert. Die auffälligen Wiederholungen zwischen V. 15 und 18 ( ὅς ἐστιν, πρωτότοκος), V.16 und 19 (ὅτι ἐν αὐτῷ) und V. 16 und 20 (τὰ πάντα, δι’ αὐτοῦ, εἰς αὐτόν) haben dazu verleitet, einen poetischen Text mit zwei parallel gebauten »Strophen« zu rekonstruieren; dies war jedoch nur um den Preis mehrerer Streichungen zu erreichen, was zu sehr unterschiedlichen Rekonstruktionen führte und vielfach als abschre-ckend wahrgenommen wurde (der Vf. stellt in der Einleitung, 5–16, einige Beispiele unterschiedlicher Analysen vor). Auch für den religionsgeschichtlichen Hintergrund des Textes sind einseitig verschiedene Hypothesen vertreten worden: alttestamentliche und/ oder hellenistisch-jüdische Weisheitsspekulation, Gnosis, stoische und mittelplatonische Logos-Philosophie (vgl. 18–23). Schließlich wird die Funktion der Passage im Kontext des ganzen Briefes zwar allgemein anerkannt, aber unterschiedlich bestimmt (vgl. 23–26). Der Vf. möchte die Aporien und Einseitigkeiten der bisherigen Forschung vermeiden und eine Art Synthese schaffen, in der auf mög lichst breiter Basis formgeschichtliche, religionsgeschichtliche und rhetorische Analyse gleichermaßen zu ihrem Recht kommen (vgl. 26–30). Die entscheidende These des Buches hat er dabei gleich zu Beginn des einleitenden ersten Kapitels benannt: Kol 1,15–20 ist ein vom Autor des Briefes zitierter Prosa-Hymnus, der eine Verbindung von jüdischen und griechisch-römischen Konventionen für den Lobpreis einer erhöhten Gestalt repräsentiert (2). Für die Gattungskategorie »Hymnus« wird eine relativ offene Arbeitsdefinition zugrundegelegt: Ein Hymnus sei eine in sich geschlossene, relativ kurze Komposition, deren Inhalt primär auf den Lobpreis einer Gottheit gerichtet ist (30–40, bes. 32f.).
Kapitel 2 (41–110) ist den Hymnen im Alten Testament und im Judentum gewidmet. Nach Vorstellung der alttestamentlichen Gattung »Hymnus« (in Anlehnung an H. Gunkel, S. Mowinckel und C. Westermann) wird Ps 33 als Beispiel ausführlicher betrachtet; es folgen die preisende Selbstvorstellung der Weisheit in Spr 8,22–31, Hinweise auf hymnische Texte in den Apokryphen und Pseudepigraphen, in Qumran, im 1. Henochbuch sowie bei Philon und Josephus. Festgestellt wird eine große Unterschiedlichkeit in Hinsicht auf Form, Inhalt und Funktion.
Kapitel 3 (111–169) befasst sich mit dem Götterlob in der griechisch-römischen Welt, wobei Theorie und Praxis berücksichtigt werden: Nach einem Blick in die Rhetorik-Handbücher und Progymnasmata (vor allem Aristoteles, Quintilian, Alexander Numeniu [d. h. Sohn des Numenios, so richtig 116, später versehentlich »Alexander Numenius«] und Menander Rhetor) werden generelle Charakteristika antiker Hymnen dargestellt (weitgehend in Anlehnung an das neuere Standardwerk von William D. Furley/Jan M. Bremer, Greek Hymns. Selected Cult Songs from the Archaic to the Hellenistic period, 2 Bde. [STAC 9–10], Tübingen 2001). Kurze Ab­schnitte stellen dann im Einzelnen die Homerischen Hymnen, Pindars Oden (obwohl keine Hymnen, sondern Epinikien, Preislieder auf Sieger im Wettkampf), die Prosahymnen des Aelius Aristides, Isis-Aretalogien, philosophische Hymnen (vor allem den Zeushymnus des Kleanthes) und die Orphischen Hymnen vor.
Nach diesen Durchgängen wendet sich die Untersuchung dann dem Text Kol 1,15–20 zu: Kapitel 4 (170–230) analysiert Form und Inhalt der Passage unter Einbeziehung der Ergebnisse von Kapitel 2 und 3. Mit Bezug auf die eingangs formulierte offene Arbeitsdefinition und einen von W. H. Gloer (Homologies and Hymns in the New Testament: Form, Content, and Criteria for Identification, PRS 11, 1984, 115–132) zusammengestellten Kriterienkatalog wird die Passage als Hymnus und als Zitat bestimmt. Unter Berücksichtigung der antiken Definition von Poesie als metrisch handele es sich jedoch um einen Prosa-Text, da zwar rhythmische Gestaltung, aber kein durchgängiges metrisches Schema zu erkennen sei. Von der Sprachgestalt her liege ein »quasi-philosophischer« Hymnus auf dem Hintergrund jüdischer Denkmuster vor. Die eigene, bisher so nicht vorgeschlagene Anordnung des Textes in »Strophe«, »Anti-Strophe« (je acht Zeilen) und »Epode« (zwei Zeilen) – die Begriffe, deren Anwendung nicht begründet wird, stammen aus der lyrischen Dichtung und sind offenbar von den Pindarischen Oden entlehnt – geht von den Relativsätzen als Strophenbeginn aus und streicht den mittleren Teil (vier Zeilen) von V. 16 als redaktionell. Die in der Forschung meistens als redaktionelle Zusätze des Briefverfassers angesehenen Hinweise auf die »Kirche« (V. 18) und auf das »Blut des Kreuzes« (V. 20) werden dagegen beibehalten.
Kapitel 5 (231–269) schließlich zeichnet den Abschnitt in den Kontext des Kolosserbriefes ein. Die briefliche und rhetorische Gliederung des ganzen Textes bestimmt ihn als »philosophischen paränetischen Brief«. Der eingefügte »Hymnus« steht im ersten Abschnitt des Briefcorpus (Kol1,3–2,7), welcher rhetorisch als »Exordium« fungiere. Als Zitat und »instance of epideictic rhetoric« (264) habe er eine ähnliche Funktion wie vergleichbare Fälle in Briefen oder Reden von Philosophen (illustriert an Seneca und Dion Chrysostomos), nämlich das Hauptargument durch Beispiele oder Anführung von Autoritäten zu unterstützen. Fast alle Worte des Abschnitts werden im weiteren Verlauf des Briefes wieder aufgegriffen (vgl. tabellarisch 265–267).
Die Arbeit stellt einen einheitlichen, gut nachvollziehbaren Entwurf dar und besticht durch ihren beeindruckend weiten Horizont, was das antike Vergleichsmaterial betrifft. Insbesondere die Kapitel 2 und 3 sind als Übersicht auch für andere Untersuchungen zu »Hymnen« nützlich. Auch Kapitel 5 enthält wichtige Beobachtungen zur Einbindung des Abschnitts in den Kontext, wobei die Bestimmung als »epideiktische Passage« im symbuleutischen Makro-Text auch dann überzeugend ist, wenn es sich um ein vom Briefautor selbst geschriebenes Christus-Lob handeln sollte (wie Senecas Lob der Philosophie in ep. 16, vgl. 248, oder Epiktets »Hymnus« in Diss. 1,16,15 ff., vgl. 144.250). Die kritischen Anfragen richten sich vorwiegend an Kapitel 4: Die von W. H. Gloer aufgrund älterer Beiträge gesammelten Kriterien für liturgisches Gut sind sehr unsicher, wie Gloer selbst und auch der Rezensent einräumen; die stärksten sind Zitat-Einführungsformeln oder wenigstens Formulierungen mit den Verben »bekennen«, »überliefern« oder »glauben«, die aber hier völlig fehlen. Auch unabhängige Parallelen in anderen frühchristlichen Schriften hat der Abschnitt nicht (abgesehen von der stoischen Formel »in ihm und durch ihn und zu ihm hin«, die sich außer in Kol 1,16 auch in 1Kor 8,6; Röm 11,36 findet). So bleibt neben dem feierlichen Gesamtcharakter hauptsächlich der Hinweis auf das Relativpronomen ὅς, das aber kein exklusives Merkmal »liturgischer« Texte ist. Besonders problematisch ist es, dass der Vf. darauf besteht, der zitierte Hymnus habe ursprünglich mit ὅς (ohne jegliches Bezugswort) begonnen: Ihm ist zwar klar, dass es keinen einzigen Hymnus außerhalb des Neuen Testaments gibt, der mit ὅς beginnt (179), aber ein hypothetisch zu ergänzender Anfang wie »Gelobt sei Jesus Christus, der« würde seine Gliederung zunichte machen. Auch diese wirkt freilich etwas künstlich: Ein Prosa-Hymnus, der wie ein Pindarisches Epinikion nach Strophe, Antistrophe und Epode aufgebaut ist, hat unter den vom Vf. in Kapitel 3 vorgestellten Hymnen keine Analogie. Auch die Aufteilung der beiden »Strophen« in jeweils acht Zeilen geht nur auf, weil er das jeweils letzte Satzglied willkürlich trennt (zwischen Artikel und Substantiv) und auch V. 19 auf zwei Zeilen aufteilt; hierzu besteht aber bei einem nicht-metrischen Prosa-Hymnus keine Veranlassung. Und schließlich kann die formgeschichtliche Klas­-sifikation als »Hymnus« in Frage gestellt werden, weil weder die typische Struktur eines alttestamentlichen Hymnus mit Lobaufforderung + »denn« (vgl. 42–52) noch die typische Struktur eines griechischen Hymnus mit Anrufung, Mittelteil und Bitte (vgl. 124–133) in Kol 1,15–20 zu finden ist; die in Kapitel 1 gegebene Arbeitsdefinition soll offenbar von vornherein das gewünschte Ergebnis präjudizieren.
Positiv zu vermerken ist die Berücksichtigung von nicht-englischer (vor allem deutschsprachiger) Literatur, was bei heutigen amerikanischen Dissertationen nicht selbstverständlich ist. Der Vf. kennt auch das einschlägige Buch des Rezensenten (›Christushymnen‹ oder ›epideiktische Passagen‹? Studien zum Stilwechsel im Neuen Testament und seiner Umwelt, FRLANT 176, Göttingen 1997), zieht es aber leider nur sehr sporadisch heran (17 f.37 f.115 f.). Das ist angesichts der weitgehenden methodischen Konvergenzen erstaunlich und bedauerlich. Insbesondere das Hauptergebnis der genannten Studie, nämlich die breite Bezeugung von Passagen in gehobenem Stil und mit lobpreisendem Inhalt in der antiken Literatur, hätte für Kapitel 5 ausgewertet werden (außer Seneca und Epiktet werden dort 210–252 und 266–279 etliche weitere Beispiele vorgestellt) und für Kapitel 4 zur Vorsicht mahnen können (auch schon in Kapitel 3 zu einer differenzierteren Wahrnehmung der Isis-Texte bei Apuleius, Metamorphosen XI, die eben nicht als eigenständige kultische »Aretalogien«, sondern im ironisch gebrochenen Kontext eines Romans begegnen). Hier ist leider die Chance auf einen wissenschaftlichen Dialog vertan worden. Stattdessen wird im Interesse der Abgrenzung ein Selbstwiderspruch in Kauf genommen: Die Forderung, für die Bestimmung eines antiken Textes als Poesie oder Prosa antike Kriterien, nämlich das Vorhandensein oder Fehlen eines Me­trums, heranzuziehen, wird anfangs (38) als »too restrictive« abgelehnt; genau dieses Kriterium – das Fehlen eines durchgehenden Metrums in Kol 1,15–20 – bildet aber später (198) das Hauptargument gegen die Klassifizierung des Textes als Poesie und für seine Bestimmung als Prosa. Widersprüchlich sind auch die Äußerungen zu Epiktets »Hymnus« in Diss. 1,16,15 ff., der auf S. 144 (mit E. Krentz) als von Epiktet selbst geschrieben angesehen wird, S. 250, Anm. 53, jedoch unter der Hand zu einem Beispiel für poetische und hymnische Zitate in antiken Briefen und Abhandlungen mutiert.
Trotz dieser Einwände liegt hier ein wichtiger Beitrag zu den neutes­tamentlichen »Hymnen«-Texten vor, der auf die weitere Erforschung dieser Texte anregend wirken dürfte.