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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

245–247

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kunz, Ralph, Marti, Andreas, u. David Plüss [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Reformierte Liturgik – kontrovers.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2011. 394 S. 22,5 x 15,0 cm = Praktische Theologie im reformierten Kontext, 1. Kart. EUR 40,80. ISBN 978-3-290-17582-5.

Rezensent:

Peter Cornehl

Es tut sich was in der reformierten Liturgik. In den letzten Jahren sind einige grundlegende Untersuchungen zu Theorie und Ge­schichte des reformierten Gottesdienstes erschienen (u. a. von Ralph Kunz und David Plüss). Das Calvin-Jubiläum 2009 hatte eine reiche Ausbeute: wissenschaftliche Tagungen, große Ausstellungen, opulent bebilderte Kataloge. Und an der Uni Bern ist 2011 ein »Kompetenzzentrum Liturgik« gegründet worden, das gemeinsam von der reformierten und der christkatholischen Fakultät getra-gen wird und schon eifrig an der Arbeit ist. Nun also ein nächster Schritt: »Reformierte Liturgik – kontrovers«.
Die Herausgeber, alle drei sind ausgewiesene Experten, haben eine Reihe von Streitfragen, die seit langem die reformierte Gottesdienstszene bestimmen, zum Gegenstand einer literarischen De­batte gemacht. Die Themen sind im flotten Pro-und-Contra-Stil als Alternativen formuliert: »Be­kenntnisbindung oder Bekenntnisfreiheit?«, »Seelsorglicher oder politischer Gottesdienst?«, »Liturgie oder Diakonie?«, »Hochkultur oder Popularkultur?« usw. Das ist manchmal treffend, manchmal aber so trivial, dass es schon absurd wirkt (»Mann oder Frau?«). Man ahnt: Es ist nicht strikt als Entweder-Oder gemeint, sondern bezeichnet Spannungspole, zwischen denen sich die Diskussion entfalten soll. 40 Autoren (zwölf Frauen und 28 Männer) nehmen in 21 Artikeln Stellung. Auf die Eingangsstatements folgen Antworten, darauf Repliken – ein Pingpongspiel, das zweimal hin- und hergehen kann. Das klingt vielversprechend. Allerdings hat das Verfahren auch seine Tücken. Die Herausgeber freuen sich: Die Autorinnen und Autoren hätten die »Kunstform« verstanden »und sich gut reformiert die Freiheit genommen, auf diese Weise zu streiten und zu raufen, wie es ihnen sachgemäß schien« (9). Das hat zum Teil geklappt, zum Teil eher nicht. Richtig »gerauft« wird wenig. Oft wird recht bald ein »Sowohl-als-Auch« angesteuert, und man einigt sich nach höflichem Geplänkel auf eine Art Mittelweg.
So gleich eingangs, wo Matthias Zeindler und Albrecht Grözinger den plakativen Gegensatz »Reformatorisch oder(post)modern?« (11 ff.) nach einer instruktiven historischen Eröffnung durch Z. schnell entschärfen, da sich G. - wie zu erwarten – der Alternative elegant entzieht: »Natürlich ist reformatorisch und postmodern kein Gegensatz. Wie ja auch die Alpen und das Mittelmeer kein Gegensatz sind« (21). Das »schwache Denken« (Vattimo) und die »transversale Vernunft« (Welsch) der Postmoderne ergänzen sich prächtig bei der Aufgabe, den Gottesdienst anschmiegsam phänomenologisch zu beschreiben, statt sein Wesen steil dogmatisch zu deduzieren. Das erlaubt G., Luthers Torgauer Formel mit einem längeren Zitat des jungen Karl Barth (aus »Not und Verheißung der christlichen Verkündigung« von 1922, das im Buch an späterer Stelle [160f.] noch einmal auftaucht) zu kombinieren, nimmt dem frühen Barth die dialektisch-theologische Schärfe und lädt mit dem späten Barth dazu ein, den Menschen liebenden Gott im Detail und das Große im Kleinen zu entdecken. Wer will da widersprechen? Z. jedenfalls nicht. Leider ist damit auch alle Spannung raus. Bei anderen Kontroversen geht es heftiger zu. So in der Frage »Bekenntnisbindung oder Bekenntnisfreiheit?« (31ff.) Die Altsynodalrätin Susanne Graf-Brawand plädiert in moderater Liberalität für das Credo im Gottesdienst, allerdings nicht für eines, sondern für mehrere, aus denen die Gemeinde frei wählen kann, ohne der Beliebigkeit zu verfallen. Das klingt vernünftig, doch Pfarrer Ueli Greminger wittert da gleich Bekenntniszwang: »Die Bekenntnisfreiheit, wie sie sich bei uns seit dem 19. Jahrhundert entwickelt hat, be­trachte ich als eine Errungenschaft, auf die wir stolz sein dürfen« (40) und die G. leidenschaftlich verteidigt, z. B. gegen die Angebote aktueller Bekenntnisformulierungen wie das Credo von Kappeln (Kurt Marti), das G.-B. ins Spiel bringt. Nein, beharrt G., das »möchte ich im Gottesdienst nicht sprechen oder mitsprechen« (48). Mag das die Situation in der deutschreformierten Schweiz widerspiegeln, für den außenstehenden Beobachter wirkt solcher Eigensinn etwas befremdlich. Bei manchen Themen bleibt es leider bei abstrakten Definitionen, so bei der Alternative »Innovation oder Tradition?« (63ff.), wo Georg Vischer erkennbar Mühe hat, auf die Eröffnung von Thomas Bornhausen angemessen zu antworten. Manchmal entsteht gar kein Gespräch, weil sich einer der Partner dem Dialog schlicht verweigert. So Hans-Jürg Stefan gegenüber Andreas Hausamann bei der Alternative »Genfer Psalter oder Praise and Worship?« (277 ff.).
Es gibt aber eine ganze Reihe aufschlussreicher Texte, welche die Auseinandersetzung beleben. Nur einige können hier genannt werden – etwa der Austausch über »Kirchenjahr oder Kasus?« zwischen Kristian Fechtner und Andreas Marti (51 ff.), gegen Ende noch einmal aufgenommen im Kapitel »Lectio continua oder Perikopenordnung?« (Franz Christ / Ralph Kunz, 369ff.). Hier findet man vorzügliche, knappe Zusammenfassungen der einschlägigen Diskussionen, gepaart mit dem Festhalten an spezifisch reformierten Erfahrungen. Auf diese Weise werden verfestigte Gegensätze produktiv verflüssigt, ohne dass die Konturen verschwimmen. Was sich als mögliche Lösung abzeichnet, ist eine kasus-sensible Verknüpfung der unterschiedlichen Traditionen: Kirchenjahr als Rahmen, ein Gespür für die Rhythmisierung des Lebens durch Feste und Festzeiten, die pragmatische Option für eine Perikopenordnung ohne Zwang, ergänzt von Reihenpredigten, in denen biblische Zusammenhänge entfaltet werden.
In anderer Hinsicht lehrreich ist die Kontroverse um »Messe oder reformiertes Abendmahl?« zwischen dem reformierten Altmeister des ökumenischen Liturgieverständnisses Bruno Bürki und der jungen Zürcher Systematikerin Andrea Anker (83ff.). B. äußert eingangs sein Unbehagen über die vorgegebene Alternative. »Wollen wir uns etwa dazu verleiten lassen, hergebrachte Ressentiments abzureagieren, und uns auf konfessionelle Teilwahrheiten versteifen?« (83), wo doch durch die Liturgiereform des Konzils ein neuer »Grundkonsens« entstanden sei – selbst wenn nach wie vor Anfragen reformierter Theologie an die katholische Mess­opferlehre bestehen. Das ist für A. allzu harmonistisch. Sie fragt erfrischend unbekümmert zurück: Ist also »jede grundlegende Kritik als solche schon unfair und übertrieben« und liegt »das Heil nur in einer gemässigten und vermittelnden Position?« (89) A. weist die katholisierenden Vermittlungsangebote des älteren Kollegen zurück und tritt dafür ein, die Aufmerksamkeit wieder stärker auf das Befremdliche der Abendmahlsgabe zu richten: »Vergebung ohne Grund, die fremde Gerechtigkeit, der Neuanfang mitten im Alten, die Freude auf das Reich Gottes und am Reich Gottes mitten in der Welt« (93). Das Kapitel endet im produktiven Dissens. Ähnlich wie der Dialog »Feier oder Verkündigung? (Schleiermacher oder Barth)« zwischen dem Basler Systematiker Georg Pfleiderer und dem Zürcher Frauenmünsterpfarrer Niklaus Peter, der auch für Kenner in­teressant ist, weil hier die beiden Ansätze auf anregende Weise interpretiert und selbstkritisch überprüft werden.
Dies sind einige Beispiele von vielen für theologisch-liturgische Auseinandersetzungen, die sich lohnen. Sie zeigen, wie um Positionen mit Argumenten ernsthaft gestritten wird, so dass Anliegen und Motive, Recht und Grenzen, Stärken und Schwächen zur Geltung kommen - im gegenseitigen Respekt vor einander und ohne die Grundunterschiede zu überspielen. Es ist das große Verdienst des Buches, solche Kontroversen markiert und so der weiteren Bearbeitung zugeführt zu haben. Damit ist die Debatte um den Gottesdienst – nicht nur den reformierten – neu eröffnet. Und es ist dafür gesorgt, dass sie nicht langweilig wird.