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Ausgabe:

Februar/2013

Spalte:

241–243

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Heymel, Michael

Titel/Untertitel:

Das Gesangbuch als Lebensbegleiter. Studien zur Bedeutung der Gesangbuchgeschichte für Frömmigkeit und Seelsorge.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2012. 335 S. m. Abb. 22,3 x 15,0 cm. Kart. EUR 39,99. ISBN 978-3-579-08149-6.

Rezensent:

Uwe Wolff

13 Kirchenlieder mit sämtlichen Strophen habe er für die Prüfung zum Einjährigen, der heutigen mittleren Reife, auswendig lernen müssen. So berichtet der lutherisch getaufte und kurz vor seinem Tod zum Katholizismus konvertierte Ernst Jünger (1895–1998). Für seine Generation war das Gesangbuch ein Lebensbegleiter, be­sonders die Lieder Paul Gerhardts wie »Befiehl du deine Wege«: »Hier ist die Substanz des Glaubens in einfache Worte gefasst, die unbemerkt lassen, dass es sich um große Dichtung handelt. Welch eine Fülle von Trost mag dieses Wort gespendet haben in den drei Jahrhunderten, seit denen es in den Gesangbüchern steht.«
Michael Heymel (*1953), bis 2012 Privatdozent für Praktische Theologie in Heidelberg und seit 2008 Mitarbeiter im Zentralarchiv der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, geht in seinen anregenden Studien »Das Gesangbuch als Lebensbegleiter« dieser Geschichte evangelischer Frömmigkeit und Seelsorge nach. Der Band, dem leider ein Literaturverzeichnis und ein Register fehlen, gliedert sich in einen historischen und einen praktisch-theolo­gischen Teil, dessen teilweise empathische Diktion zeigt, dass die wissenschaftlichen Studien zur Hymnologie in den Kernbereich einer lutherischen Frömmigkeitspraxis führen wollen. H.s Analysen von Gesangbuchvorreden, Werken einzelner Lieddichter und Komponisten oder die Darstellung Davids als Gestalt musikalischer Seelsorge zeigen am geschichtlichen Beispiel Leitlinien einer theologischen Sprachlehre auf. Mit Cyriakus Spangenberg (152 8–1604) unterscheidet H. drei Dimensionen des wortgebundenen Singens: Loben, Lehren und Trösten oder Lobamt, Lehramt und Trostamt. Leider kommt die doxologische Dimension des Singens in H.s Studien zu kurz. Zwar befinden sich im Anhang seiner Studien Ab­bildungen aus alten Gesangbüchern, in denen gerade dieser Aspekt hervorgehoben wird: Der Gesang der Gemeinde stimmt ein in den immerwährenden Lobgesang der Engel (Abb. 3, 5, 7, 8, 9, 11, 13, 14, 15), denn »Gott loben, das ist unser Amt« (EG 288.5). Das Lobamt der Gemeinde hat in den Chören der Engel ein hymnologisches Vorbild. Im Gotteslob (Gloria, Sanctus) vereinigen sich die sichtbare und die un­sichtbare Schöpfung. Doch H. blendet diese Zusammenhänge aus.
Die pädagogische und consolatorische Dimension der Lieder wird dagegen engagiert entfaltet. Dabei spart H. nicht mit entschiedener Kritik an der »hymnologisch defizitären Theologenausbildung«. Vikare und Vikarinnen »kennen oft nur noch wenige Lieder des Gesangbuchs aus ihrer eigenen christlichen Sozialisation«, im Konfirmandenunterricht werden kaum noch Lieder aus dem EG gesungen. »Dieses Sich-nicht-Trauen färbt als negatives Vorbild ab«. H. beschreibt die Angst einiger Seelsorger vor dem Gesang, die sich atmosphärisch auf die Gemeinde übertrage. »Schwierigkeiten mit Liedern des Gesangbuches, die im Gottesdienst gesungen wer den (sollen), zeigen an, dass mit dem Gottesdienst etwas nicht stimmt.« H. spricht von einer »Selbstsäkularisierung der Kirche« und dem negativen »Vorbild pastoraler Singabstinenz«. Hinter diesen offenen Worten steht die erschütternde Erfahrung eines Traditions- und damit Sprachverlustes.
Als Katharina Kippenberg, die große Verlegerin der Insel und Entdeckerin des Dichters Edzard Schaper, 1947 in Marburg im Sterben lag, da betete sie wie Generationen vor ihr die berühmten Verse: »Breit aus die Flügel beide …«. 60 Jahre später werfen Konfirmanden und Konfirmandinnen aus Braunschweig nach der Konfirmation ihre Gesangbücher in den Altpapier-Container. H. er­­öffnet seine Studien mit dieser Anekdote, und er verliert niemals den Blick auf die pädagogischen Herausforderungen der Gegenwart. Das Kapitel »Über den persönlichen Umgang mit dem Ge­sangbuch heute« enthält nicht nur hilfreiche Anregungen für die Einübung von Kirchenliedern heute, sondern es ist auf erfrischende Weise frei von einem theoretischen Überbau, der die schlichte Wahrheit nur wortreich verhüllt: »Ein Lebensverhältnis zu Liedern setzt ja voraus, dass ich durch ein vom Glauben bewegtes Singen sozialisiert worden bin oder werde. Das lässt sich nicht im Handumdrehen vermitteln. Es lässt sich ebenso wenig durch etwas anderes ersetzen, wie man sprechen, gehen und schwimmen durch etwas anderes lernt als durch Sprechen, Gehen und Schwimmen.«
Singen lernen Kinder und Enkelkinder nur durch eine praktische Übung. Dazu brauchen sie Vorbilder in Gemeinde und Elternhaus, Kontinuität der Einübung und Verlässlichkeit in der Einhaltung der Rituale. Nur durch Form, Disziplin und Rhythmus werden die Lieder zu jenen großen Begleitern, die das Licht des Glaubens noch in den letzten Grenzsituationen aufleuchten lassen können. Religiöse Erziehung in Gemeinde und Elternhaus bedarf der Form. »(D)iese Tatsache steht nicht zur Wahl«, lautet die einfache, aber fundamentale Wahrheit. »Sing, bet und geh auf Gottes Wegen« (EG 369.7), heißt der hymnologische Imperativ. Eine Ge­meinde, die nicht mehr singt, verliert diese Mitte des Glaubens. Denn »Singen ist eine feine edle Kunst vnd exercitium«, wie Martin Luther (WATR 1, Nr. 1300) zu betonen nie müde wurde.