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Ausgabe:

Januar/2013

Spalte:

93–94

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ricken, Friedo

Titel/Untertitel:

Warum moralisch sein? Beiträge zur gegenwärtigen Moralphilosophie.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 160 S. 21,0 x 13,5 cm. Kart. EUR 22,90. ISBN 978-3-17-021506-1.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Die Leitfrage des Buches – Warum moralisch sein? – weckt hohe Erwartungen. Friedo Ricken ist durch markante Publikationen zu ethischen, theologischen und philosophischen Themen hervorgetreten. Insofern ist man darüber ein wenig enttäuscht, dass der vorliegende Band eine Sammlung von Aufsätzen oder Vorträgen darstellt, die thematisch durchaus heterogen sind und unverbunden nebeneinander stehen. Gelegentlich sind sogar noch Vortragsflos­keln abgedruckt (141: »Lassen Sie mich zum Schluss […]«). Den Band beschließt ein Beitrag, der die Frage »Warum moralisch« pragmatisch beantwortet: Moral und Vertrauen seien für das Funktionieren von Wirtschaft und Markt unerlässlich (137–142). Zuvor werden begriffliche Differenzierungen zur Bioethik und zum Tierschutzgedanken entfaltet (110–136). Die meisten Aufsätze be­fassen sich mit Grundlagen der Ethik. Neben dem Blick auf an­gelsächsische Ethik theorien geht es um die philosophische Tu­gendlehre im Spannungsgeflecht zwischen Aristoteles, Thomas und Kant, um das Gewissens- und das Religionsverständnis bei Kant oder um den Personbegriff in Korrelation zur Menschenwürde.
Einleitend sagt der Vf., der Untertitel seines Buches hätte eigentlich auch lauten können: »Beiträge der klassischen Ethik zu Fragen der gegenwärtigen Moralphilosophie« (7). Angesichts dieses Anliegens hätte man sich gewünscht, dass Kants Deutungsansätze zum Gewissen (52–59) oder seine ethische Interpretation der Religion (60–72) nicht nur präzis dargestellt, sondern in ihrem Stellenwert für heutiges Denken abgewogen worden wären. Welche Aussagekraft lässt sich Kants Ideen der Glückswürdigkeit, des höchsten Gutes und des transzendenten Ausgleichs im Horizont heutiger Moralphilosophie tatsächlich noch zuschreiben? An anderer Stelle gelangt der Vf. unter Bezug auf Kant dann allerdings zu konkreten Schlussfolgerungen. Er erwähnt heutige bioethische Streitfragen und plädiert für eine quasi absolute Schutzwürdigkeit des frühen Embryos als Mensch vom Zeitpunkt der abgeschlossenen Befruch tung an (109). An anderer Stelle rekurriert er jedoch – durchaus zustimmend – auf den aristotelischen Begriff der Potentialität (84). Greift man Letzteren auf, dann liegen zum moralischen und ontologischen Status früher Embryonen indessen ganz andere Schlussfolgerungen nahe, nämlich eine Gradualisierung bzw. Abstufung des Schutzanspruchs vorgeburtlichen menschlichen Lebens.
Das Buch schwankt nicht nur an diesem Punkt zwischen Kant mit seiner Pflicht- und Willensethik einerseits, Aristoteles und der Strebensethik andererseits. Das Oszillieren zwischen beiden Denkern tritt schon im einleitenden Beitrag zutage, der sich mit dem Thema »Selbstachtung« befasst (11–20). In derzeitigen moralphilosophischen, sozial- und bioethischen Diskursen wird die Idee der Selbstachtung viel zu wenig beachtet. Insofern ist es nützlich, dass das vorliegende Buch auf sie eingeht. Es nennt Anknüpfungspunkte, die dazu dienen können, sich mit dem Begriff der Selbstachtung wieder verstärkt auseinanderzusetzen.