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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1390–1392

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmutzer, Manfred E. A.

Titel/Untertitel:

Die Geburt der Wissenschaften. Panta Rhei.

Verlag:

Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2011. 472 S. 22,2 x 14,5 cm. Lw. EUR 45,00. ISBN 978-3-942393-16-4.

Rezensent:

Hans-Dieter Mutschler

Vor 40 Jahren, als der Marxismus/Neomarxismus noch großen Einfluss auf die Intellektuellen hatte, erschienen Schriften über Naturwissenschaft, die uns zumindest heute peinlich sein sollten: So leitete z. B. Ernst Bloch Galileis Mechanik aus der aufkommenden Geldwirtschaft im Frühkapitalismus ab und machte dessen Pathologien zum Ausgangspunkt einer Kritik an dieser Mechanik, oder er bezeichnete die Quantentheorie als viel zu kompliziert, nämlich als einen Auswuchs des Spätkapitalismus, den man sozialistisch zurechtstutzen müsse. Seit dem Zusammenbruch des Marxismus waren wir überzeugt, solche Formen des soziologischen Begriffsimperialismus loszusein, aber sie scheinen in manchen randständigen Soziologenkreisen überlebt zu haben, wie das vorliegende Werk zeigt.
Manfred Schmutzer geht davon aus, dass die politische Ge­schichte eine Geschichte der Brüche in den Herrschaftssystemen sei, was dann zu Verschiebungen in den Rechtsystemen führen müsse. Um die neue Herrschaft zu legitimieren, sei es ein probates Mittel, sich auf die Natur zu berufen. – So weit, so gut. Es war in der Tat so, dass gesellschaftliche Unrechtsverhältnisse, wie z. B. Sklaverei oder Unterdrückung der Frau, oft mit Berufung auf die Natur legitimiert wurden. Wäre S.s Buch nichts als der Versuch, solche legitimatorischen Rückprojektionen vom Beginn der griechischen Kultur an bis zur Spätantike aufzuzeigen, so hätte dies ein interessantes Buch werden können.
Der Anspruch dieses Buches, dem zwei weitere folgen sollen (um die gesamte Geschichte der Wissenschaft abzudecken), geht aber darüber hinaus: Diese legitimatorischen Rückprojektionen (»So­ziomorphismus« genannt) sollen zugleich Ursprung der Naturwissenschaft sein und deren Bedeutung als kontingente, kulturrelative Setzungen festlegen. Nun würde man selbst hier noch ein Stück weit mitgehen können, wenn S. sich z. B. auf Philosophen wie Pythagoras beschränken würde, dessen Zahlenmystik den sozialen Ursprung in der Polis deutlich zum Ausdruck bringt. Aber S. be­handelt die gesamte Wissenschaft nach diesem Muster.
Das Problem möge in Bezug auf Aristoteles verdeutlicht werden: Aus seinem riesigen naturphilosophischen Werk greift S. allein die Lehre vom »natürlichen Ort« heraus (nicht die Akt-Potenz-Lehre, nicht die Vierursachenlehre, nicht die scala naturae, die sich doch wegen ihres Bezugs zur Ständegesellschaft angeboten hätte). Dieses durchaus periphere Lehrstück vom natürlichen Ort wird dann vage analogisierend auf die Tatsache bezogen, dass die Kraft des Gesetzes in der Polis nur auf ihre konstituierenden Elemente bezogen war.
Den Ursprung der Aristotelischen Logik und ihre Bedeutung sieht S. im Gerichtsverfahren als einer Strategie, den Prozess durch Verabsolutierung der eigenen Prämissen zu gewinnen (295). Aber wenn der Sinn der Syllogismen derart an eine historisch-kontingente Position gebunden ist, weshalb war dann diese Syllogistik über 2000 Jahre herrschend und weshalb ist sie noch heute in der elementaren Prädikatenlogik als Teil enthalten und wird in den verschiedensten Kulturen auf der ganzen Welt gleichermaßen ge­lehrt?
Auch bei Plato wird das non datur tertium der Logik auf den Herrschaftswillen zurückgeführt, auf eine Art »aristokratische Ge­genaufklärung«, um Scheinklarheit zu den eigenen Gunsten zu schaffen (Platos »Trickkiste«, wie er es nennt [237], denn »Wo Wi­dersprüche nicht geduldet werden, herrscht Autorität.« [296]). Folgt daraus, dass die gesamte Mathematik bis heute zur »aristokratische[n] Gegenaufklärung« und zur Herrschaftslegitimation zu rechnen sei?
So grob wie diese altlinken Pauschalurteile, so unpräzise sind die Interpretationen im Einzelnen: S. verwechselt z. B. bei Aristoteles das substanzielle Werden mit der qualitativen Veränderung (323), er glaubt, dass die Aristotelische Physik ausschließlich mit dem Werden zu tun habe (359), und ignoriert die Konstanz der Formen, die diese Physik erst ermöglichen. Von Newton und Einstein glaubt er, dass sie die Aristotelische Physik »gut« kannten (329), wo sie sich doch niemals damit beschäftigt haben, usw.
Das große systematische Manko dieser Arbeit ist, dass S. Genese und Geltung identifiziert. Das ist schon in den Anfängen der Wissenschaft problematisch, wird aber, falls die Folgebände erscheinen sollten, für die Wissenschaft der Neuzeit zu katastrophalen Fehlinterpretationen führen. Denn seit Galilei und Newton kommt mit Messung, Mathematisierung und reproduzierbarem Experiment etwas Neues in die Wissenschaft, das die Geltung wissenschaftlicher Theorien von ihrer Genese tendenziell abkoppelt. S. aber behauptet, dass sich die neuzeitliche Wissenschaft nicht wesentlich von der antiken unterscheide. Er macht ein Beispiel: Man könne z. B. sehen, dass die steady state theory des Universums von dem Marxisten Hoyle vertreten wurde, während sein katholischer Kollege Lemaitre die Urknalltheorie als Pendant zur Schöpfungstheologie entwickelt habe (24). Aber gerade an diesem Beispiel sieht man den gravierenden Unterschied zur antiken Kosmologie, die spekulativ war und die Bewährung durchs Experiment nicht kannte: Die scientific community hat die steady state theory aus Gründen mangelnder Bewährung ausgeschieden und Lemaitres Urknalltheorie wurde ihres theologischen Ursprungs beraubt. Spätestens in der neuzeitlichen Naturwissenschaft läuft S.s Schema völlig leer.
Dies noch aus einem anderen Grund: Das Schema einer Rück-projektion von Rechtsverhältnissen in die Natur funktioniert nur in einer teleologischen Naturauffassung. In einer modernen, ateleollogischen hat sie keinen Boden mehr, was leicht erklärt, weshalb die Naturrechtsdoktrin gerade durch den Sieg der Naturwissenschaften an Plausibilität verloren hat.
Die Unklarheit über das Verhältnis von Genesis und Geltung macht sich nicht zuletzt dadurch bemerkbar, dass sich S. die Auseinandersetzung mit dem Mainstream der Wissenschaftstheorie erspart hat. Er rekurriert ausschließlich auf eine Minderheit von Konstruktivisten und Instrumentalisten: Pierre Duhem, Ludwig Fleck, Karin Knorr-Cetina, Jürgen Mittelstraß usw.
Das Buch enthält erdrückend viel historisches Material. Als Sozialgeschichte könnte es leidlich durchgehen, nicht aber, wenn die systematische These von der Kulturrelativität der Naturwissenschaft oder sogar von Mathematik und Logik begründet werden soll. Dann nämlich bietet das Buch viel zu viel Stoff, der nicht hierher gehört: Z. B. betont S., dass Technik nicht sein Thema sei, be­handelt aber ausführlich die Hippokratische Medizin, von der er doch explizit betont hatte, sie sei eine Technik (196). Er beschreibt die Werke des Euripides und Sophokles, ohne dass man erkennen könnte, was das mit dem Thema zu tun hat. Das ist auch der Fall bei dem langen Kapitel über römisches Recht (369–407). S. meint selbst, dass das römische Recht nicht Anlass für wissenschaftliche Innovation gewesen sei. Aber wozu dann dieses Kapitel, das eher eine Gegeninstanz wäre? Ebenso enthält das Buch geradezu giftige Invektiven gegen das Christentum, die Trinitätslehre, das Konzil von Nicäa usw. Aber wenn das Christentum auf Offenbarung, nicht auf Natur basiert, passt es schon gar nicht ins Schema einer Projektion von Herrschaftsansprüchen in die Natur. Vielleicht hat S. beim Schreiben auch noch den roten Faden verloren.