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Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1376–1378

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U., u. Stefan Berg [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gestalteter Klang – ge­stalteter Sinn. Orientierungsstrategien in Musik und Religion im Wandel der Zeit.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 231 S. 23,0 x 15,5 cm. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02826-9.

Rezensent:

Peter Bubmann

Der Band ist auf der Suche nach epochentypischen »Mustern«, die als »strukturelle Äquivalenzen in unterschiedlichen Bereichen« (6) zu finden sind, also auch in den Feldern der Musik und Religion. Als »Markierungsbojen« werden vier Daten genutzt: 1555, 1789, 1918 und 2010, in deren Umfeld die Sichtungen vorgenommen werden. Als Brückenbegriff für eine solche zeitanalytische »Tiefenhermeneutik« schlagen die Herausgeber den Begriff der »Orientierung« (8) vor.
Stefan Berg liefert dazu den theoretischen Unterbau, dem allerdings keineswegs alle Autoren folgen, weshalb Berg wie Dalferth in den Einleitungspassagen zu anderen Artikeln diese kommentierend zurechtlesen müssen. Nach Berg verorten und orientieren sich die Musikwahrnehmenden (egal ob Komponist, Interpret oder Hörer) anhand von Bezugspunkten im Raum der Klangmöglichkeiten im Rekurs auf Ordnungsstrukturen, die unterschiedlich starr (sozial-konventionell) oder flexibel bzw. individuell sein können, von den Gesetzesordnungen bis zu singulären Performanz­ordnungen des einzelnen Subjekts. Berg fängt den spätmodernen Pluralismus und Individualismus so ein, dass er auf der individuellen Unvertretbarkeit des je eigenen Orientierungsvollzugs be­harrt (vgl. 22). Als musikalische Ordnungen, die »Anhalt« und also Orientierungsbezüge ermöglichen, nennt Berg in einer unabgeschlossenen Aufzählung die tonale Ordnung des Tonraums, melodische und akkordische Ordnungen und Formordnungen.
Eine solche weit gefasste Hermeneutik könnte in der Tat einen hilfreichen Rahmen zum Verständnis sehr unterschiedlicher Mu­sikerfahrungen bieten. Es muss allerdings überraschen (was an der fast völligen Abblendung der populären Musikstile liegen mag), dass gerade nicht die im alltäglichen Musikkonsum dominanten Parameter Sound und Rhythmus zuerst bedacht werden, die neben der Melodik für die Mehrheit der Bevölkerung die primären Bezugspunkte musikalischer Orientierung darstellen. Ganz offensichtlich bleibt der Band (mit Ausnahme einiger Anmerkungen von Werner Stegmaier) auf die Wahrnehmung europäischer Kunstmusik begrenzt. Das müsste kein Schaden sein, würde solche Eingrenzung auch explizit als Eingrenzung des Forschungsfelds benannt. So jedoch wird der weithin benutzte Singular der »Musik« (wie natürlich auch der der »Religion«) zur offenen Flanke der vorliegenden Studien. Ob so auch nur im Ansatz begriffen werden kann, was sich zur Jahrtausendwende in der Vielfalt der Musikstile (wie in der pluralisierten Religionsausübung) ereignet und worin Parallelen liegen könnten – nämlich u.a. in einer Formatierung zur »populären Religion« ( Hubert Knoblauch) –, scheint fraglich. Hier hätte es sich nun doch gelohnt, die zahlreichen Forschungsarbeiten aus der neueren Kulturwissenschaft wie auch der Praktischen Theologie wahrzunehmen, denen eben keineswegs durchgehend eine »Tendenz zur Funktionalisierung« (8) zu eigen ist, wie die Herausgeber vorschnell meinen attestieren zu müssen.
Die Musikwissenschaftlerin Silke Leopold weist in ihrer Analyse von Kontrafakturen zwischen verschiedenen Konfessionen und zwischen Säkularmusik und geistlicher Musik die Suche nach tiefenhermeneutischen Äquivalenzen zwischen Musik und anderen Geistesgebieten grundsätzlich und brüsk zurück: Musik mache »sich für jeden schön, der sich ihrer bedienen möchte« (73). Der Musikwissenschaftler Wolfram Steinbeck weist im Revolutionszeitalter (Symboldatum: 1789) anhand der Entwicklung der Sonatensatzform in den Streichquartetten von Joseph Haydn die Entwick-lung einer autonomen Kunstmusik auf, deren Sinnstruktur in ih­ren Formspielen liege. Der Theologe Thomas Erne schließt daran die (an zwei Kirchbauten exemplifizierte) diskussionswürdige These an: »Formaufbau und Formzerstörung – in der Zentrierung des Zu­sammenspiels beider Momente ästhetischer Erfahrung im Gottesbewusstsein entwickelt und entfaltet sich die Orientierungsleis­tung, die Religion für Musik und Architektur erbringt.« (137)
Das Symboldatum 1918 reizt nun dazu, im Zerbrechen der bisherigen Ordnungsstrukturen eine Gemeinsamkeit zwischen Mu­sik und Religion zu konstruieren. Der die Spätromantik destruierende Neuansatz Schönbergs mit der Zwölfton-Technik wird von Matthias Schmidt als spirituell fundierte Kompositionstechnik erläutert, Dietrich Korsch hingegen versucht reichlich spekulativ und formal bleibend, »den Übergang von der ersten zur zweiten Fassung des Römerbriefs [Karl Barths; P. B.] mit Schönbergs Übergang von einer spätromantisch-entwickelnden Musik zur Musik mit zwölf Tönen zu parallelisieren« (173).
Den spannendsten Beitrag bietet der Philosoph Werner Stegmaier zur Zeitmarke 2010. Musik sei »Sinngestaltung als Zeitgestaltung« (199). Als Kunst könne sie gezielt Resonanzen unter unterschiedlichen Orientierungen erzeugen und so in der Musik des Lebens experimentell neue Lebensmöglichkeiten erschließen, und dies in der ganzen stilistischen Breite von der Tanzmusik bis zur Neuen Musik. Unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen verän­dere sich auch die Religiosität, die immer weniger auf dogmatische Gehalte rekurriere und stattdessen »zu einer Musik des Lebens« werde, »aus der heraus sich plurale religiöse Vorstellungen artikulieren« (208). Neue Musik könne dabei irritierende Resonanzen erzeugen und dadurch kreativ desorientieren. Wenn er am Ende seines Beitrags daneben das Erleben von Dankbarkeit und Verdanktsein als Gemeinsames von Musik und Religion profiliert, wird damit ein Dialogangebot unterbreitet, das im weiteren Nachdenken über religiöse und musikalische Erfahrungen (und von solchen wäre auszugehen, nicht von spekulativ oder rein werkanalytisch erhobenen Strukturmustern bestimmter Epochen) theologisch beherzt aufzugreifen wäre.