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Ausgabe:

März/1996

Spalte:

306–308

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Sun Hsiao-chi, Johannes

Titel/Untertitel:

Heiligt die gute Absicht ein schlechtes Mittel? Die Kontroverse über Teleologie und Deontologie in der Moralbegründung unter besonderer Berücksichtigung von Josef Fuchs und Robert Spaemann.

Verlag:

St. Ottilien: EOS Verlag 1994. XI, 308 S. 8o = Dissertationen Philosophische Reihe, 12. Kart. DM 34,­. ISBN 3-88096-862-4.

Rezensent:

Annegret Freund

Das interesseleitende Problemempfinden dieser katholischen Dissertation aus jesuitischem Umfeld ist wie folgt zu charakterisieren: Hält das römische Lehramt nach wie vor daran fest, in moralischen Fragen Normierungen mit absolutem Gültigkeitsanspruch vorlegen zu können, so wird in der katholischen Moraltheologie dieses Verfahren zunehmend angefragt. Strittig sind dabei beispielsweise die Erlaubtheit künstlicher Kontrazeption, die Unauflöslichkeit der Ehe oder die Möglichkeit eines medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruchs. Vertreter einer erneuerten Moral innerhalb der katholischen Theologie sind hier und grundsätzlich bewegt vom Bewußtsein einer Weiterentwicklungsbedürftigkeit ethischen Urteilens angesichts der Erweiterung menschlichen Wissens und Könnens und damit verbunden neu entstandener oder in neuem Licht zu sehender moralischer Fragen.

Im Spannungsfeld von Reformierung und Bewahrung geht es dieser Richtung ­ und S. trägt deren Anliegen mit ­ nicht um die Außerkraftsetzung bisheriger Leitsätze, wohl aber um einen durch Einsicht und nicht durch Indoktrination geprägten Umgang mit überkommenen Normen. Kontextbezogene Beweglichkeit und vernunftgeleitete Urteilsbildung statt rigider Moral, so läßt sich der Zielwert sittlicher Theorie und Praxis umschreiben. Um die moraltheologische Begründbarkeit dieser Erneuerung geht es der vorliegenden Arbeit.

Ob eine Handlung als sittlich richtig oder falsch zu beurteilen ist, entscheidet sich ausschließlich aufgrund ihres Nutzens und ihrer Folgen, so wird das Fazit der Arbeit am Ende lauten. "Teleologie... (ist) die einzig vertretbare formale Reflexionsform der Moralbegründung" (295). S. hat sich mit dieser These hineinbegeben in die philosophisch vorgeprägte und derzeit innerkatholisch virulente Kontroverse über Teleologie und Deontologie. Er definiert, um Klarheit in die Begrifflichkeit zu bringen, Teleologie (= T, allgemein: Orientierung auf das Telos von Handlungen) als aus zwei Teilprinzipien bestehende Begründungstheorie: a) Beurteilung von Handlungen im Blick auf die bestmögliche Entfaltung der vorfindlichen Wirklichkeit (= Tn) und b) Beurteilung von Handlungen im Blick auf die (voraussehbaren) Folgen (= Tf). Deontologie (= D, allgemein: Orientierung an Normen oder Pflichten) charakterisiert er demgegenüber dadurch, daß sie (zumindest einige) Handlungen kennt, die immer und unter allen Umständen, ohne Rücksicht auf jedwede Folgen, schlecht sind ­ es gibt Mittel, die durch keinen Zweck geheiligt werden.

Was es bedeutet, Tn, das sog. Nutzenprinzip, als Kriterium in Anschlag zu bringen, sei am wiederholt herangezogenen Beispiel erläutert. Nach dem Verständnis offizieller katholischer Morallehre eignet der menschlichen Sexualität eine doppelte Finalität. Danach ist der eheliche Akt durch die Möglichkeit der Fortpflanzung und das Interesse an liebender Vereinigung geprägt, beides in unlöslichem Zusammenhang, so lautet die naturrechtlich untermauerte Argumentation. Darum sei jede künstliche Empfängnisverhütung sittlich falsch und verwerflich. S. fragt dagegen, ob dieser Zusammenhang wirklich natur- und gottgegeben und für jeden ehelichen Akt absolut gültig sei. Vielmehr sei Natur als solche und das, was wir als Natur, als natürlich verstehen, immer noch zweierlei. Es bedürfe schließlich der Tätigkeit der Vernunft, um Natur allererst zu interpretieren, auch die historische Wandelbarkeit des Naturverständnisses zu berücksichtigen und nicht zuletzt den Blick offenzuhalten für die Vielfalt von Naturzwecken. Im genannten Beispiel kann man über die doppelte Finalität hinaus etwa die mitgegebene geistig-leibliche Entspannung geltend machen. In dieser Ergänzung bisheriger Sichtweise verschafft sich die Naturpluralität der Sexualität Ausdruck. Die ratio, soll sie die beschriebenen Differenzierungsaufgaben erfüllen, bedarf zu ihrer Orientierung eines (höchsten) Kriteriums. Sie findet es im wahren Wohl des Menschen, darin, daß der Mensch in allem wirklich als Mensch lebt, seiner Gesamtnatur gemäß und diese zur Entfaltung bringend. Darin kulminiert Tn. Exemplarisch kann das heißen, daß ein Elternpaar zu der moralisch verantwortbaren Überzeugung kommt, bereits genügend Kinder zu haben und fortan künstliche Kontrazeption anwenden zu dürfen.

Tf, das Folgenprinzip, ist dann gültig, wenn man, so legt S. dar, alle Werte bzw. Unwerte, die aus einer Handlung hervorgehen, als Wirkungen bzw. Folgen dieser Handlung definiert und dieses Gesamt der Folgen das Kriterium sittlicher Richtigkeit einer Handlung sein läßt. In Befragung der traditionell gelehrten Quellen der Sittlichkeit (Handlung an sich, Absicht, Umstände) macht S. durch eine handlungstheoretische Analyse klar, daß die drei Aspekte ontologisch nicht voneinander trennbar sind. Was zu den Umständen, was zur Absicht, was zu einer "Handlung an sich" gezählt wird, ist im alltäglichen Verstehenszusammenhang eine Frage der Praktikabilität und der Übereinkunft. Ein weit gefaßter Folgenbegriff ist jedoch diesen verschiedenen Hinsichten immanent und damit als übergreifende Größe tauglich zum Maßstab der Moralbegründung.

S. verteidigt die so gewonnene These gegen verschiedene Einwürfe und Bedenken. Besonders strikt grenzt er sich von einem dem hedonistischen Nutzenprinzip gehorchenden Utilitarismus ab. Tf nimmt keineswegs eine Maximierung der Lüste als Kriterium der Wert- bzw. Folgenabwägung an. Zu den definitorischen Grundentscheidungen der Arbeit gehört weiterhin eine konsequente Unterscheidung von Person und Handlung (die nicht zu verwechseln ist mit der protestantischen Distinktion zwischen Person und Werk), somit auch die getrennte Betrachtung von Absicht und Handlung. Nur Letzteres ist Sache der Moralbegründung. Bei der teleologischen Beurteilung der sittlichen Richtigkeit einer Handlung spielt die Absicht keine Rolle, insofern nur tatsächliche, nicht aber beabsichtigte Folgen als solche in Betracht kommen. Darum kann, wie andere meinen, eine Überbewertung der (guten) Absicht nach Ansicht des Vf.s nicht eigentlich die Gefahr von Tf sein.

In solchen und ähnlichen langausholenden Argumentationsbögen werden Geltungsbedingungen und Tauglichkeit der beiden Teilthesen Tn und Tf untersucht mit dem Ziel, T als die richtige Art der Moralbegründung zu erweisen. D dient in dieser Lage lediglich der Profilierung der zu beweisenden These. Damit wird jedoch im Grunde ein unechter Gegensatz aufgemacht, wenn denn D Moralbegründung gar nicht leisten kann, sondern voraussetzen muß, also theoretisch auf einer anderen Ebene liegt (so S. selbst). Dann aber ist T in der Frage der rechten Moralbegründung konkurrenzlos. Mir leuchtet nicht ein, daß es, wie der Vf. meint, hinsichtlich D und T keinen Wahrheitspluralismus, sondern nur ein Entweder-Oder geben soll. Auch die beiden im Titel genannten Gewährsmänner (weite Teile der Arbeit leben von der Auseinandersetzung mit deren Schriften) lassen sich nicht rein und restlos auf T (so tendenziell Fuchs) und D (so tendenziell Spaemann) festlegen. Läge nicht gerade in der wechselseitigen Befragung und Begrenzung von D und T ein wesentlicher Gewinn? In der vorliegenden Arbeit wird dieses Gespräch bereits in weiten Teilen geführt, umsichtig und auf hohem Abstraktionsniveau. Der Duktus ist nüchtern; die Sprache allerdings teilweise holprig. Das beinah grenzenlose Zutrauen in die Leistungsfähigkeit der ratio mag protestantischerseits auf Vorbehalte stoßen. Hinsichtlich der eingangs erwähnten moralpraktischen Fragen läßt sich aus protestantischer Perspektive, also von einem Standpunkt außerhalb, wohl leichthin und mit einer Mischung aus Bedauern und Mitgefühl sagen, hier handle es sich um viel zu zahm geführte Nachhutgefechte. Aber möglicherweise bedarf es ja eines gewaltfreien, lediglich posauneblasenden siebenmaligen Umzugs wie um die Mauern von Jericho, ehe gewisse lehramtliche Bastionen in sich selber zusammenfallen.