Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2012

Spalte:

1312–1313

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ariëns, Elke, König, Helmut, u. Manfred Sicking [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Glaubensfragen in Europa. Religion und Politik im Konflikt.

Verlag:

Bielefeld: transcript 2011. 228 S. m. Abb. u. Tab. 22,5 x 13,5 cm = Europäische Horizonte, 7. Kart. EUR 27,80. ISBN 978-3-8376-1707-8.

Rezensent:

Joachim Willems

Es gibt zwei Arten von Büchern zu aktuellen Themen: Bücher, die einen genuinen Forschungsbeitrag bieten, und Bücher, die in einer neuen und noch unübersichtlichen Diskurslage Orientierung schaffen wollen. Das vorliegende Buch gehört eher zu dieser zweiten Gruppe. Es geht aus von der mittlerweile nicht mehr so ganz neuen Einsicht, dass Religion »in den säkular-aufgeklärten Gesellschaften des Westens mitnichten den langsamen Tod gestorben zu sein [scheint], der ihr viele Jahrzehnte prophezeit wurde« (7). Stich punkte, die auch hier genannt werden: der 11. September 2001, Kopftücher, Karikaturen. Ein Großteil der Beiträge, die zum Teil bereits an anderen Orten veröffentlicht wurden, informiert über Aspekte des Verhältnisses von Religion und Politik im gegenwärtigen Europa – und, was im Titel nicht zur Geltung kommt – dar­über hinaus. Fachleuten wird hier das Meiste vertraut vorkommen, wenig Informierte bekommen kurze Zusammenfassungen von Diskussionsständen oder auch den Forschungsfeldern der Autoren.
Im ersten Beitrag nach der kurzen Einleitung fragt Detlef Pollack wieder einmal, »inwieweit wir in Europa tatsächlich von einem Stopp des bislang allgemein unterstellten Entkirchlichungs- und Säkularisierungsprozesses und von Prozessen eines religiösen Bedeutungszuwachses sprechen können« (15). Pollack kommt zu dem Ergebnis, »dass der Säkularisierungsthese nach wie vor ein hohes Erklärungspotenzial zukommt«, dass aber zugleich »auch die Individualisierungsthese ein beachtliches Maß an Plausibilität« besitze (44). Allerdings bekommt er religiöse Dynamiken außerhalb traditioneller religiöser Institutionen gerade nicht in den Blick, wenn er außerkirchliche Religiosität so operationalisiert, dass er »nach dem Glauben an Astrologie sowie an die Wirksamkeit von Spiritualismus und Okkultismus« fragt (21).
Dietrich Thränhardt beschreibt die religiöse Pluralisierung im Einwanderungsland Deutschland. Detailliert beschäftigt sich Thränhardt mit den »Nebenkirchen«, die für katholische Süd- und Mitteleuropäer entstanden sind, und eher oberflächlich mit den Organisationsformen, die der Islam hierzulande gefunden hat. Die Beschreibung von unterschiedlichen »Religionsregimen« zeigt die innerdeutsche Pluralität in religionspolitischer Hinsicht – gerät aber sehr stereotypisiert (Norddeutschland = evangelisch = modern = religiöse Neutralität und Gleichbehandlung; Süddeutschland = katholisch = »christliches Religionsregime« und, innerhalb der Kirche, »hierarchische Erstarrung«; 66 f.).
Claus Leggewie analysiert Religionskonflikte am Beispiel von Auseinandersetzungen um Moscheebauten in Deutschland. Er plädiert dafür, solche Auseinandersetzungen »durch Formgebung [zu] zivilisieren« (79).
Die juristischen Betrachtungen von Kopftuch- und Burka-Verboten in Deutschland und Europa durch Kirsten Wiese informieren über die momentanen Rechtslagen und kommen zu dem Schluss, dass pauschale Kopftuch-Verbote für Lehrerinnen und Burka-Verbote auf öffentlichen Plätzen nicht mit dem Grundgesetz übereinstimmen.
Gudrun Krämers informative Darstellung des Verhältnisses von Religion, Recht und Politik im Islam ist, wie Krämer selbst schreibt, ein »vogelflugartiger Blick« (141), der Europa leider ebenso wenig in den Fokus nimmt wie Wolfgang Günter Lerchs etwas zu pauschale Ausführungen über ›den‹ Islam (resp. ›den‹ Islamismus, vgl. 156) in ›der‹ Moderne. Beide Texte sind erstmals bereits lange vor dem ›Arabischen Frühling‹ erschienen. Deshalb stellt sich zuweilen die Frage, ob sie so noch aktuell sind.
Ebenfalls außerhalb des Europäischen Horizonts bewegt sich der Beitrag von Rainer Prätorius zu »Religion und Politik in den USA«. Prätorius unternimmt es, die religionspolitischen Unterschiede zwischen Deutschland und den USA vor dem Hintergrund ihrer Geschichte zu erklären und ihre jeweiligen Vor- und Nachteile beim Umgang mit Zuwanderung und religiöser Pluralität abzuwägen.
Die beiden abschließenden Beiträge verlassen den Rahmen einer Orientierung im Themenfeld »Religion und Politik im gegenwärtigen Europa«.
Gerade deshalb kann Julien Winandys Text auch für religionspolitische Fachleute von größerem Interesse sein. Detailliert und informiert setzt sich Winandy mit der amerikanischen und deutschen Rezeption von John Rawls’ Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs auseinander und kommt zum Schluss, »dass eine postulierte Dichotomie zwischen religiösen und säkularen Bürgern als Prämisse für eine normative Theorie einer demokratischen Partizipationsethik sowie einer Idee staatsbürgerlicher Tugend wenig taugt« (193).
Der Band schließt ab mit einem Beitrag von Burkhard Biella über »Bildung der Öffentlichkeit«. Ausgehend von einer mitunter recht pauschalen Kulturkritik der Gegenwart diskutiert er im Anschluss an Schleiermacher das Verhältnis von Staat, Gesellschaft, Religion und Erziehung. Dabei bleibt der Er­trag für die heutige Diskussion über ›Glaubensfragen in Europa‹ leider gering und hätte den Umweg über Schleiermacher nicht gebraucht.
Damit liegt ein Band vor, den man kaum von der ersten bis zur letzten Seite durchlesen, sondern eher zur ersten Information oder als Nachschlagewerk für genaue Statistiken, Jahreszahlen und Paragraphen zur Hand nehmen wird.