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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1270–1271

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Gräb, Wilhelm, u. Thomas Thieme

Titel/Untertitel:

Religion oder Ethik? Die Auseinandersetzung um den Ethik- und Religionsunterricht in Berlin.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2011. 255 S. 24,0 x 15,5 cm = Arbeiten zur Religionspädagogik, 45. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-89971-665-8.

Rezensent:

Friedhelm Kraft

Über Religion wird in Berlin seit Langem gestritten. Dass die Kirchen in dem sog. »Berliner Modell« keine adäquate Lösung für die Frage religiöser und ethischer Bildung in der Schule sehen, ist spätestens seit den Auseinandersetzungen um das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religion(skunde) in Brandenburg bekannt. Bereits im Zuge dieser Debatte ist das »neue Berliner Modell«, Religionsunterricht im Rahmen einer Fächergruppe zu verankern, entstanden. Die Entscheidung des Berliner Senats, mit Beginn des Schuljahres 2007/08 ein ab Klasse 7 für alle Schüler obligatorisches Schulfach »Ethik« einzuführen, hat den Streit um den Religionsunterricht in eine neue Phase geführt, der in dieser Form in der Bundesrepublik einmalig ist. Eine von den Kirchen unterstützte Elterninitiative »Pro-Reli e. V.« gelang es, die Voraussetzungen für einen Volksentscheid zu schaffen. Es folgte eine mehrwöchige Auseinandersetzung, in der die Anhänger des Vereins »Pro Reli« und der Initiative »Pro Ethik« in aller Unversöhnlichkeit um die Gunst der Öffentlichkeit stritten. Der Berliner »Weltanschauungsstreit« ist klar zu­gunsten eines obligatorischen Pflichtfaches Ethik entschieden worden. Der Religionsunterricht hat unverändert den Status eines zusätzlichen Wahlfaches in kirchlicher Verantwortung. Die Kirchen haben damit in Berlin eine bittere Niederlage hinnehmen müssen. Dass mit diesem Ergebnis »die Berliner Regelung auch anderen Bundesländern den Weg weist« (19) – so die Herausgeber –, darf aber getrost bezweifelt werden. Allerdings ist ihnen zuzustimmen, dass die Berliner Auseinandersetzung – trotz des spezifischen Kontextes – eine »paradigmatische Bedeutung« für den Religionsunterricht in ganz Deutschland hat. Insofern ist die von den Herausgebern vorgelegte Dokumentation der öffentlichen De­batte um den Religionsunterricht in Berlin uneingeschränkt zu begrüßen.
Die besonderen Regelungen für den Religionsunterricht in Berlin werden in Aufnahme geschichtlicher Perspektiven im ersten Teil der Veröffentlichung dargestellt. Schade ist, dass die Quellenzitate hier ohne Verweise bleiben. Im zweiten Teil – dem aus meiner Sicht interessantesten Kapitel – erfolgt eine Darstellung und Beschreibung der maßgeblichen Argumente in der öffentlichen Debatte. Mit großer Akribie werden die tragenden Argumente von Kommentatoren und Kommentatorinnen sowie Sprecherinnen und Sprechern von »Pro Reli« und »Pro Ethik« dokumentiert. Grund­lage sind zum einen Zeitungsartikel und zum anderen die offiziellen Stellungnahmen der beteiligten Akteure. Neben der Gliederung für oder gegen Religionsunterricht wird die Debatte nach den Themenschwerpunkten »(1) Gestalt und Inhalt der öffentlichen Bildung in Religion und Ethik, (2) Geltung und Interpretation des Grundgesetzes und der Grundrechte sowie (3) die Rolle von Religion und Religionsgemeinschaften in Politik und Gesellschaft« (56) in systematisierter Form aufbereitet. Dass die Autoren mit diesen Un­terscheidungskriterien »eine Interpretation der Auseinandersetzung« befördern, wird als Zielsetzung offengelegt. Hervorzuheben ist aber die behutsame Kommentierung der dokumentierten Argumentationsstränge, die zudem durch Kästen markiert werden. Das zu­sammenfassende Fazit zeigt in aller Deutlichkeit die Gegensätze und Spannungen des Diskurses über Religion und Bildung auf.
Im dritten Teil werden die Rahmenlehrpläne von Ethik, Religionsunterricht und Lebenskunde-Ethik-Religionskunde (LER) ausführlich dokumentiert und beschrieben. Auch hier werden die kritischen Kommentare und Anmerkungen der Autoren in Form von Kästen ausgewiesen. Im Blick auf den Rahmenplan für den evangelischen Religionsunterricht wird wenig deutlich, aufgrund welcher religionspädagogischen Positionierung die Anmerkungen formuliert werden. Mein Eindruck ist, dass hier religionskulturelle und religionstheoretische Vorgaben das Urteil bestimmen, die religionspädagogisch kaum eingeholt werden. Auch der Blick auf die verwendete Literatur zeigt den begrenzten Zugang zum religionspädagogischen Diskurs. Der vierte Teil der Veröffentlichung steht unter der Überschrift »Reflexionen«. Die Herausgeber hatten bereits in der Einleitung als Konsequenz des Berliner Streits das Modell eines »Religionsunterrichts für alle« bzw. »religionsneutralen Religionsunterrichts« vorgestellt. Allerdings scheinen die Autoren sich über Folgerungen und Begründungen nicht einig zu sein. Thieme argumentiert in der Unterscheidung von (objektiven) Religionen und (subjektiver) Religion für einen Religionsunterricht » in und über Religion und Religionen von Religionen und religiösen Menschen« (230). Der Ausgang des Volksbegehrens wird augenscheinlich bedauert, die Folgen für einen Religionsunterricht »an« der Schule im Sinne eines »freiwilligen Angebot(s) für die Steigerung individueller Lebensqualität« (231) kritisch beurteilt. Gräb dagegen entwirft ein entschiedenes Plädoyer für »die Zugehörigkeit religiöser Bildung zur Allgemeinbildung« und begründet dies im Anschluss an »das Konzept der Spiritualität« (238 ff.). Die Aufgabe religiöser Bildung wird in dieser Perspektive als »Befähigung zur religiösen Selbstbildung« in Abgrenzung zu einer »Beheimatung in einer objektiven Religionskultur« (240) bestimmt. Religionsunterricht ist damit zugleich »religionskundlicher Unterricht« und kann als allgemein bildendes Fach »für alle« ausgewiesen werden. Inwiefern sich mit diesem Ansatz ein eigenes Fach in der Schule begründen lässt, darf auch im Blick auf den angelsächsischen Spiritualitätsdis­kurs – Spiritualität als fachübergreifende Aufgabe – bezweifelt werden. Hilfreich – auch für die Begründung einer Fächergruppe – ist, wie Gräb die Widersprüchlichkeit einer »angeblich notwendigen Wertbindung der Ethik einerseits und ihrer religiös-weltanschau­lichen Neutralität andererseits« (234) als Fiktion entlarvt.
Fazit: Die Herausgeber dokumentieren eine Religionsdebatte, die einen Ausschnitt aus dem aktuellen Religionsdiskurs widerspiegelt. Auch wer religionspolitisch und insbesondere religionspädagogisch anders optiert, kann sich dieser Debatte nicht entziehen. Daher ist die Lektüre dieser verdienstvollen Veröffentlichung nur zu empfehlen.