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Ausgabe:

November/2012

Spalte:

1195–1197

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Arnd

Titel/Untertitel:

Versuchung im Markusevangelium. Eine biblisch-hermeneutische Studie.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 336 S. 24,0 x 16,0 cm = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 197. Kart. EUR 44,90. ISBN 978-3-17-022024-9.

Rezensent:

Paul-Gerhard Klumbies

Bei dieser Arbeit von Arnd Herrmann handelt es sich um eine Dissertation, die im Sommersemester 2010 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn angenommen wurde. Betreuer und Erstgutachter war Günter Röhser.
H. entfaltet sein Thema in zwölf Hauptabschnitten. Dem Durchgang durch die einschlägigen Markustexte in Kapitel 11 (153–278) stellt er in zehn Abschnitten den gegenwärtigen Stand der Markusforschung sowie einen Überblick über die bisherigen Arbeiten zur Versuchungsthematik voran (11–152). Den Abschluss bildet in Kapitel 12 eine ausführliche Ergebnissicherung (279–306).
Kapitel 1 gibt eine Übersicht über das gewählte Gliederungsverfahren. Die forschungsgeschichtlichen Ausführungen in Kapitel 2 setzen mit einer Skizze der unter form- und redaktionsgeschichtlichen Vorzeichen geführten Debatte um das Verständnis der Chris­tologie des Markusevangeliums ein. Als ein Kernproblem des auf der methodischen Voraussetzung der Scheidung von Tradition und Redaktion beruhenden Modells eines Wachstums postulierter Textstufen, die der Endfassung der Evangelienschrift vorangingen, kritisiert H. zu Recht, »dass eindeutige Kriterien für die Erhellung des Verhältnisses zwischen Tradition und Redaktion fehlten und allen Vorschlägen zur literarischen Dekomposition […] etwas Spekulatives anhaftete.« (16) Anschließend stellt H. den Ertrag der Erzählforschung zum Verständnis des Markusevangeliums vor. Was die Herausarbeitung des Leitthemas des Markusevangeliums angehe, habe es eine Entwicklung in der Forschung gegeben. Nach der Fokussierung auf die durch W. Wrede eingeführte Messiasgeheimnishypothese habe sich das Interesse schwerpunktmäßig auf die Christologie und deren Beziehung zur Königsherrschaft-Gottes-Thematik, auf die Nachfolgefrage und auf die Soteriologie verlagert (22–24).
Zur literaturgeschichtlichen Einordnung der ältesten Evangelienschrift schlägt H. in Kapitel 3 eine Synthese aus dem Spektrum vorliegender Vorschläge vor. Beim Markusevangelium handele es sich »um ein historiographieorientiertes Werk«, das »fiktive Elemente« integriere, sich »an die Form der antiken paganen Biographie«, insbesondere die Philosophenvita, anlehne und zudem »Strukturelemente […] aus der alttestamentlich-jüdischen Überlieferung« aufgreife (44), durch die Jesus »in die Tradition des ›leidenden Gerechten‹« rücke. Aus der Leserperspektive sei das Markusevangelium als eine Biographie wahrgenommen worden. Deren christologisches Spezifikum, die Verkündigung Jesu als eines Gottessohnes, der als »›normaler‹ Mensch gelebt« (45) hat, gebe dem Werk seinen einzigartigen Charakter innerhalb der antiken biographischen Literatur. Die in der Forschung vorgetragene Alternative zwischen Jesus als »agent of God« und »ethical role model« sieht H. in einer Einheit aufgehoben. Jesus werde der Leserschaft als ein »Prototyp« präsentiert, dessen Wirken »Modellcharakter« besitze (45). Seine Vorbildfunktion resultiere aus seiner Bedeutung als »Urbild«, das den Glaubenden bei ihrer eigenen »Identitätsfindung« helfe (43). Jesu Geschichte stelle einen Impuls für die »Deutung der eigenen Existenz« dar. Diese fundierende Rolle für die Prägung »der Lebens- und Erfahrungswelt der Leser« erlaube es, das Evangelium als »Mythos« zu bezeichnen, ohne damit eine »Aussage über den historischen Gehalt des Werkes« zu treffen (45).
Das Versuchungsmotiv wird in der Markusforschung (Kapitel 4) vornehmlich in der Auseinandersetzung zwischen Jesus und dem Satan verortet. Akzentuiert wird auch der Testcharakter der Versuchungen. Damit werden der Leserschaft in der Situation nach 70 der Gehorsam Jesu und seine Leidensbereitschaft als Maßstab für ihr eigenes Handeln an die Hand gegeben.
Der Entfaltung der Semantik des Wortfeldes »Versuchung« im Deutschen und Griechischen (Kapitel 5) folgt eine Übersichtsdarstellung von Versuchungsszenen aus griechischer, alttestamentlicher und jüdischer Literatur (Kapitel 6). Die gebündelte Präsentation des Befundes im Neuen Testament (Kapitel 7) ergibt, dass mit der Darstellung der Versuchungen Jesu und der der Glaubenden im Neuen Testament zwei Stränge thematisiert werden, die in einem inneren Bezug zueinander stehen. Jesu Weg durch die Versuchungen besitze Beispielcharakter für die Gläubigen (121–122).
Für die Datierung des Markusevangeliums (Kapitel 8) setzt H. die Zeit in den Jahren zwischen 66 und 69 n. Chr., also noch vor der Zerstörung des Tempels, an (124–125). Im Blick auf den Abfassungszweck des Werkes macht H. sich den Gedanken der Traditionsbewahrung nach dem Tod der Gründergestalten des frühen Christentums zu eigen. Die »Vermittlung der Worte und Taten Jesu« ziele darauf ab, »den Gemeinden […] konkrete Orientierungs- und Lebenshilfen« (129) und gleichzeitig »Argumentationshilfen zur eigenen Identitätsbildung gegenüber der Herkunftsreligion« (131) zu vermitteln. Die Traditionsgebundenheit des Markusevangeliums sei als Indiz für die bleibende »enge Nähe zur Herkunftsreligion« (132) zu werten.
Beobachtungen zur markinischen Erzählweise (Kapitel 9) und Hinweise zur Textauswahl und Methodik (Kapitel 10) bereiten die Textauslegung im engeren Sinn vor (Kapitel 11). Der Reihe nach ausführlich untersucht werden die Passagen Mk 1,12–13; 8,10–13; 10,1–9; 12,13–17; 8,27–33; 14,26–31; 14,32–42; 14,66–72; 15,22–39. In der Summe kommt H. zu dem Ergebnis, dass die Versuchungsthematik bei Markus nicht Teil einer Satanologie oder Dämonologie ist, sondern als »anthropologisches Phänomen« entfaltet wird (198. 288). Stärker als der Satan treten Jesus menschliche Versucher ge­genüber (280). Die Versuchungen, denen Jesus ausgesetzt ist, haben »Prüfungscharakter« (281). Jesu scharfe Reaktion gegenüber Petrus in 8,33 zeige die Macht, die der Versuchung der Leidensvermeidung innewohne (207.282). Wie für Jesu Anhänger innerhalb der Erzählung bildet für die Leser der Evangelienschrift Jesu Umgang mit Leiden und Versuchung die eigene Situation ab (210–212). Die dritte christliche Generation teilt die Erfahrungen, die Jesus macht, und zieht aus seinem Umgang mit den Versuchungen Trost und Orientierung für die eigene Lebensbewältigung (285–286).
H. verankert seine Markusdarstellung zwischen den beiden Polen von Traditionsbindung und Gegenwartsorientierung. In seinen historischen Urteilen ist er um Synthesen zwischen divergierenden Ansätzen bemüht. Bei der Bestimmung der Gattung und der literaturgeschichtlichen Hintergründe dominiert freilich die additive Zusammenführung unterschiedlicher Lösungsvorschläge. Ähnliches gilt für die von H. intendierte »Kombination von narratologischen Auslegungsmethoden und leserorientierter Betrachtungsweise«, die unter Integration der diachronen mit den syn chronen Zugängen erfolgen soll (150). Die Tragfähigkeit einer solchen auf Addition beruhenden Synthese bleibt damit eine Frage.
Zu würdigen ist, dass die vorgelegte Untersuchung exegetische Einsichten auf einen seelsorgerlichen Kontext hin transparent macht. H. zeigt sich sensibel für die Wahrnehmung der Züge im Markusevangelium, die der Formung der Leserschaft dienen. In historischer Hinsicht bleibt die Arbeit insofern konventionell, als sie Markus auf der Grundlage der Scheidung von Tradition und Redaktion als traditionsgebundenen Erzähler zeichnet. Gleichwohl eröffnet die Wahrnehmung der theologischen, auf Verge-genwärtigung zielenden Perspektive des Markusevangeliums die Möglichkeit, in der Diskussion um den literarischen Charakter der ältesten Jesuserzählung über die verbreitete Zuweisung des Markusevangeliums zu einem traditionssichernden Genre hinauszugelangen.