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Ausgabe:

März/1996

Spalte:

264 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bormann, Lukas

Titel/Untertitel:

Philippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1995. XIV, 248 S. gr.8o = Supplements to Novum Testamentum, 78. Lw. Nlg. 140,­. ISBN 90-04-10232-9.

Rezensent:

Walter Rebell

Es handelt sich bei dem vorzustellenden Buch um eine Dissertation, die 1993 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt angenommen wurde. Die Aufgabenstellung der Arbeit lautet "interpretative Verbindungslinien zwischen der politischen und religiösen Situation der römischen Kolonie Philippi und der dort lebenden Christengemeinde zu ziehen." (1) Natürlich ist die politische und religiöse Situation in Philippi bei der Auslegung des Philipperbriefes immer schon mitberücksichtigt worden, aber wohl nie mit dem Ausmaß wie bei B.: Er schreitet alles verfügbare Wissen sorgfältig ab, und er vermeidet es, dieses Wissen sozusagen als losen Haufen vor dem ntl. Schreiben liegenzulassen (wie es bei exegetischen Arbeiten, die einen langen historischen Anmarschweg gehen, leider oft geschieht), sondern was über die politische und religiöse Situation Philippis erarbeitet wurde, wird dann in der Tat interpretativ genutzt; das Ergebnis ist eine beeindruckend geschlossene Gesamtkonzeption. Daß diese allerdings Einseitigkeiten aufweist, ist fast unvermeidbar (siehe dazu unten).

B. behandelt den historischen Stoff unter den folgenden drei Überschriften: "Philippi in historischer Perspektive" (Kap. 2), "Philippi in religionsgeschichtlicher Perspektive" (Kap. 3), "Philippi in der antiken Geschichtsschreibung" (Kap. 4). Herausgearbeitet wird in den Kapiteln 2 und 3 vor allem das städtische Selbstverständnis Philippis. Es geht um generelle Probleme der römischen Koloniengründung, um die Gründung der Kolonie Philippi in lokalgeschichtlicher Perspektive (wobei Münzprägungen und Inschriften ausgewertet werden), es geht (im religionsgeschichtlichen Teil) um die Caesarenreligion und die Kaiserverehrung sowie um die in Philippi verehrten Gottheiten und die dort praktizierten Kulte. In Kap. 4 zieht B., um das bisher gewonnene Bild abzurunden, antike Autoren wie z.B. Tacitus, Sueton und Plutarch heran.

Mit Kap. 5 beginnt der zweite Teil des Buches ("Paulus und die Gemeinde in Philippi"). B. wendet sich zunächst einleitungswissenschaftlichen Fragen zu und gibt einer literarkritischen Teilung des Philipperbriefes den Vorzug vor der Integrität (Brief A: 4,10-20 u. 4,21-23; Brief B: 1,1-3,1 u. 4,2-7; Brief C: 3,2-4,1 u. 4,8 f.). Aufgrund der Teilungshypothese wird dann eine Chronologie der Ergebnisse erstellt.

Das Herzstück des Buches ist Kap. 7: "Die Beziehungen zwischen Paulus und der Philippergemeinde im Spiegel hellenistisch-römischer sozialer Konventionen." B. setzt sich hier folgendes Ziel: Es sollen "die sozialen Konventionen und Beziehungsmuster, die in der hellenistisch-römischen Welt, besonders aber in einer römischen Kolonie vorausgesetzt werden können, auf das Verhältnis zwischen Paulus und der Philippergemeinde als reziprokes Unterstützungsverhältnis bezogen werden. Das Ziel kann nicht die volle Identifikation, aber doch eine kritische Abwägung der Übereinstimmungen und Divergenzen sein. Es sollen soziale Konventionen bzw. ethische Paradigmen diskutiert werden, die zur Klärung des Verhältnisses des Paulus zur Philippergemeinde beitragen können. Dazu zählen 1. Die hellenistische -Konzeption (Freundschaftsbeziehung), 2. das hellenistisch-römische Beneficialwesen, wie es in Senecas Schrift De beneficiis dargestellt ist, 3. die römische konsensuale societas und schließlich 4. das römische Patronats- bzw. Klientelverhältnis." (164) Noch einmal: Die von diesem Ausgangspunkt her vorgenommene Analyse des Philipperbriefes ist beeindruckend. Um nur eines der vielen Einzelergebnisse herauszugreifen: "Die Philipper interpretierten diese Situation [vgl. Phil. 2,25-30; 4.10-20] im Rahmen des Klientelverhältnisses als eine Solidarität herausfordernde gemeinsame Notsituation. Paulus ist in seiner Funktion als öffentlicher Verkünder des Evangeliums in eine Rechtsstreitigkeit geraten. Dieser Prozeß ist damit nicht seine Privatsache, sondern wird von den Philippern als eine ihre Zusammengehörigkeit betreffende Angelegenheit verstanden." (212)

Abschließend einige Worte der Kritik: B. argumentiert nicht im eigentlichen Sinne soziologisch oder sozialpsychologisch, d.h., er reflektiert die antiken gesellschaftlichen Sachverhalte nicht von den heutigen sozialwissenschaftlichen Theorien her, um sie ihrerseits überhaupt erst einmal in einen wissenschaftlichen Verstehenshorizont zu bringen. Ferner frage ich mich, ob nicht das Evangelium als solches eine stärkere soziale Wirkung ausübte, als B. das anzunehmen scheint. Steckt nicht im Evangelium selbst eine sozial umgestaltende Kraft (in Richtung auf eine brüderlich-schwesterliche "Gegengesellschaft")?